Sünde ist relativ

Der Begriff "Sünde" bezeichnet in diesem Artikel ein Fehlverhalten gegenüber Gott.

Im Alten Testament waren Sünden durch das Gesetz des Mose absolut definiert, und so benutzen die meisten Menschen diesen Begriff auch heute noch. Die Sünde war genau beschrieben, und das entsprechende Gebot oder Verbot war exakt definiert und galt für jeden Gläubigen ohne Ausnahme. Ebenso traf die Strafe jeden Gläubigen ohne Ausnahme.

Allerdings war schon lange vor Mose, nämlich seit Abraham, das Verhältnis zwischen Mensch und Gott durch die Qualität der Beziehung bestimmt. Nicht normengerechtes Verhalten hatte bei Abraham, Isaak und Jakob den größten Einfluss auf Gottes Verhältnis zu ihnen, sondern was sie über Gott dachten.

Und auch unter Mose wurde das Volk von schweren Strafen getroffen, nicht etwa, weil sie gegen eine festgelegte Norm verstoßen hatten, sondern weil sie Gott nicht geglaubt hatten, was er gesagt hatte - sie dachten, Gott sei unzuverlässig oder unfähig. Nicht ihr Ungehorsam wurde bestraft, sondern ihr mangelndes Vertrauen.

(So z.B. beim Bericht der Kundschafter in 4.Mose 14,22 oder bei der Sache mit den Gurken, Melonen, Zwiebeln und Knoblauch in 4.Mose 11,33.)

Spätestens bei David haben wir dieses Prinzip dann wieder. Und bei David wirkt es sich das erste Mal sichtbar so aus, dass "Sünde" ausgehend vom privaten Verhältnis zwischen David und Gott definiert wird:

  • David hat den König Achisch von Gat nach allen Regeln der Kunst belogen und betrogen (1.Sam 27:8-10). Das hat Gott ihm aber nie zum Vorwurf gemacht. (Außer vielleicht, dass David Gott keinen Tempel bauen durfte, weil er zuviel Blut vergossen hatte - 1.Chr 22:8)
  • Um diesen Betrug zu verschleiern, hat David hemmungslos auch Wehrlose getötet (1.Sam 27:9+11). Das war zwischen Gott und David aber nie Thema.
  • Im Gegensatz dazu wusste David, dass er Saul nicht töten durfte. Und das, obwohl David längst von Gott zum König anstelle Sauls ernannt worden war und Saul alles tat, um David umzubringen. Saul zu töten wäre also moralisch gerechtfertigter gewesen als die Tötung Wehrloser im Sinai. Aber David erkannte, dass Gott ihm diesen Totschlag schwer ankreiden würde.
  • David hat den Priester Ahimelech zweimal heftig belogen (1.Sam 21:3 und 21:9) und ist dadurch wohl auch mitschuldig an dessen Tod und am Tod der anderen Priester geworden (1.Sam 22:22). Gott hat das aber nie thematisiert.
  • Andererseits musste David Regeln einhalten, die es im Gesetz des Mose überhaupt nicht gab. So haben Mose und Josua Volkszählungen durchgeführt, aber als David genau das Gleiche machte, wurde das von Gott als schwere Sünde gewertet (2.Sam 24).

Dass das "Christentum" heute mehr als eine Religion denn als eine Beziehung zu Gott zu beschreiben ist, ist ebenso traurig wie wahr. Denn „Sünde“ wird heutzutage im Christentum vor allem als absoluter Wert verstanden, als Regelverstoß und der Bruch absoluter Normen.

In Wahrheit wird aber von dem, dem viel gegeben ist, auch viel verlangt, und die Lehrer erhalten ein härteres Urteil als andere Gemeindeglieder. Das neue Testament kennt nur zwei absolute Sünden, aber tausende relative.