Gerechtigkeit in der Bibel
Wenn in der Bibel von Gerechtigkeit die Rede ist, handelt es sich um etwas völlig anderes, als was wir heute in unserer Gesellschaft unter Gerechtigkeit verstehen.
Denn wir verstehen Gerechtigkeit heute als eine horizontale Angelegenheit, nämlich als das Verhältnis zwischen zwei mit begrenzten Rechten ausgestatteten Personen oder Parteien, die in gewisser Hinsicht auf einer Ebene stehen.
- Wenn ich bei Ihnen einen Toaster kaufe, ist es gerecht, wenn ich Ihnen auch Geld dafür gebe.
- Wenn der Staat ein Gesetz macht, ist es gerecht, wenn er sich mir gegenüber auch an seine Gesetze hält.
- Wenn der Textilarbeiter in Bangladesch für mich Klamotten näht, ist es gerecht, wenn er für diese Arbeit auch anständig bezahlt wird.
Wir haben damit letztlich einen Wert, der auf beide beteiligten Parteien angewandt wird. Wenn alle Beteiligten das bekommen, was ihnen zusteht, dann herrscht Gerechtigkeit.
Keineswegs absolut
Damit ist Gerechtigkeit aber ein relativer Wert.
- Gerechtigkeit ist abhängig vom Zeitgeist. Was heute als ungerecht gilt, war vor 500 oder 1000 Jahren ein selbstverständlicher Standard. Und in 500 Jahren wird man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen über einige Dinge, die wir heute als gerecht ansehen.
- Gerechtigkeit ist gesellschaftsabhängig. Islamische Gesellschaften finden andere Dinge ungerecht als hinduistische.
- Horizontale Gerechtigkeit ist keine Tatsache, sondern nur ein Gefühl. So kann es nach einem Gerichtsurteil sein, dass beide Parteien das Urteil ungerecht finden, was rein sachlich aber (z.B. bei der Güterverteilung nach Scheidungen) gar nicht sein kann. Westliche Menschen finden die Löhne für Textilarbeiter in Bangladesch ungerecht, die Arbeiter selbst aber sehen das gar nicht so. Darum gibt es auch so viel Streit über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeiten: Weil es Gerechtigkeit als solche überhaupt nicht gibt. Es gibt nur das Gefühl, dass etwas gerecht oder ungerecht ist.
Vertikale Gerechtigkeit
Die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft (und den meisten anderen) ist relativ und veränderbar, weil es keine anerkannten absoluten Werte gibt.
In der Bibel gibt es diese Absolutheit aber.
Alle Wertmaßstäbe in der Bibel werden von Gott gesetzt, sie stehen fest für alle Ewigkeit.
Damit ist auch Gerechtigkeit nicht ein Wert, der zwischen mir und einer anderen Partei ausgehandelt wird.
Sondern Gerechtigkeit wird definiert von Gott.
Gott handelt nicht als eine Partei mit ähnlichen Rechten wie ich, sondern er spricht und handelt als Richter.
Die Gerechtigkeit in der Bibel geht also von oben nach unten: Gott ist oben als der, der den Wert bestimmt, und ich bin unten als der, der dem bestimmten Wert zu entsprechen hat.
Gottes Gerechtigkeit
Die Bibel kennt den Begriff „Gottes Gerechtigkeit“.
Schon in diesem Moment muss man das Hirn anwerfen, denn in unserem gesellschaftlichen Sprachgebrauch ist Gerechtigkeit etwas, das zwischen Menschen oder anderen Parteien stattfindet; nicht etwas, was einer einzigen Partei zu eigen ist.
Damit ist aber der Unterschied schon gut erkannt: Gottes Gerechtigkeit ist einseitig in Definition und Auswirkung.
Und Gottes Gerechtigkeit besteht in der Ablehnung und der Vernichtung des Bösen.
Das können Sie sich als Definition irgendwo hinschreiben.
Das Böse ist immer ungerecht, und das, was dem Willen Gottes entspricht, ist immer gerecht.
Wenn es also in Römer 1,17 heißt, dass das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbar macht, dann macht das Evangelium deutlich, wie sehr und in welcher Form Gott dem Bösen den endgültigen Kampf angesagt hat.
Wenn die beliebte Stelle in der Bergpredigt auffordert, man solle zuerst nach dem Reich Gottes und dessen Gerechtigkeit trachten, so besteht die Gerechtigkeit des Reiches Gottes aus der vollständigen Ablehnung des Bösen.
Infolgedessen ist „der Gerechte“ in der Bibel auch nicht der, der niemanden ausbeutet oder über den Tisch zieht, sondern der, der den Willen Gottes tut.
„Gerecht gesprochen“ wird nicht der, der Fair-Trade-Produkte kauft, sondern derjenige, der Gott gehorcht.
Die horizontale Gerechtigkeit des Alten Testamentes
Die horizontale Gerechtigkeit zwischen Menschen oder Gruppen kommt im Neuen Testament nicht vor, weil sie im Vergleich zur Liebe völlig unzureichend ist und somit nicht dem Willen Gottes entspricht.
„Wenn eure Gerechtigkeit nicht weitaus größer ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“, sagt Jesus in Matthäus 5,20. Und auch wenn die Christen ein schlechtes Bild von den Pharisäern haben: Das waren in der großen Mehrheit gläubige und anständige Leute. Die Mafiosi waren die Priester, also die Sadduzäer. Die Pharisäer hatten eine recht gute horizontale Gerechtigkeit: Sie gaben Gott, was er nach ihrer Meinung forderte, und gaben den Menschen, was denen nach ihrer Meinung zustand. Aber das reicht eben nicht.
Aber was ist mit den Stellen im Alten Testament, die sich mit den Armen, den Witwen und Waisen sowie den Fremden beschäftigen? Sprechen sie nicht von einer horizontalen Gerechtigkeit zwischen mir und dem Anderen?
Nein, tun sie nicht.
Denn das befohlene Verhalten gegenüber diesen benachteiligten Personengruppen bezog sich nur auf das Land Israel.
Die Benachteiligten in den Nachbarländern kommen nicht vor.
Oh doch, sie kommen vor: In den Anordnungen über Sklaven z.B. steht drin, dass man keine hebräischen Sklaven haben soll, aber die Bewohner der angrenzenden Gebiete darf man lebenslang versklaven.
Wir haben es mit den Gesetzen bezüglich der Benachteiligten also mit einer absolut vertikalen Konstruktion zu tun, einer willkürlichen Festsetzung durch Gott. Was man übrigens auch daran sieht, dass Gott selber für das von ihm beschlossene Recht für die Benachteiligten kämpfen wird (2.Mose 22,22+23; was übrigens in Sprüche 22,22+23 bestätigt wird) und diese Vorgänge keineswegs einer gesellschaftlichen Konsensvereinbarung überlässt.
Zusammenfassung
Der Begriff der „Gerechtigkeit“ meint in der Bibel etwas völlig anderes, als er in unserer säkularen Gesellschaft meint.
Das kommt daher, dass die Maßstäbe für Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt werden (die Verwendung von Plastik galt vor 50 Jahren als absolut positive Handlung), weil es in einer säkularen Gesellschaft keine absoluten Maßstäbe gibt.
Die Bibel und das Reich Gottes leben aber von den absoluten, ewig gültigen Maßstäben von einem, der sich auskennt. Und dessen Maßstäbe so gut sind, dass man sie weder anpassen noch neu verhandeln muss.
Folglich bezieht sich „Gerechtigkeit“ in der Bibel auf feste, vordefinierte Werte, während es sich im weltlichen Zusammenhang auf das aktuelle Lebensgefühl der Menschen bezieht.
Was „gerecht“ ist, bestimmt in der Bibel einzig Gott, in der säkularen Gesellschaft eben diese Gesellschaft.