Der Baum der Erkenntnis
Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ist ja ein seltsames Phänomen.
Wenn man von diesem Baum isst, wird man sterben.
Sollte das heißen, dass Erkenntnis tötet?
Soll das heißen, dass Gott nicht will, dass der Mensch zwischen gut und böse unterscheiden kann? Dass der Mensch dumm bleiben soll, zumindest in moralischer Hinsicht?
Das widerspräche natürlich den Aussagen des neuen Testamentes, die das Unterscheidungsvermögen zwischen gut und böse fordern und eine diesbezügliche Erkenntnis zwar der Liebe untergeordnet wissen wollen, aber prinzipiell für höchst erstrebenswert halten.
Dann wären plötzlich die Menschen lobenswert, die nur Milch wollen und kein Fleisch.
Von daher kann man schon sehen, dass die volkstümliche Auslegung dieses Baumes irgendwie grundsätzlich falsch ist.
Das grundsätzliche Missverständnis
Die Erkenntnis des Guten und Bösen kommt nicht durch das Essen von dem Baum.
Denn dass es böse ist, von dem Baum zu essen, wussten die beiden ja vorher.
Dass Gott das nicht gut findet, wenn sie von dem Baum essen, wussten sie, seitdem Gott es ihnen gesagt hatte.
Die Erkenntnis des Guten und Bösen sollte also nicht durch das Essen geschehen, sondern durch das Vorhandensein dieses Baumes einschließlich des Verbotes.
Die Erkenntnis des Guten und Bösen geschah nicht durch das Essen. Durch das Essen erfuhren die beiden den Unterschied zwischen gut und böse am eigenen Leib. Das Essen führte zu Erfahrung, nicht primär zur Erkenntnis. Und es führte zu Erfahrung, die von Gott trennt, während die reine Erkenntnis zu einer Annäherung an Gott geführt hätte, zu einer Steigerung der Ebenbildlichkeit.
Das Wesen der beiden Bäume
Die beiden Bäume im Paradies wirkten nicht durch ihre Frucht, sondern durch ihre Existenz.
Die beiden Bäume vermittelten die grundlegenden Eigenschaften Gottes, nach denen der Mensch zu einem göttlichen Wesen umgestaltet werden sollte: Leben und Verantwortung.
Sie vermitteln das aber aufgrund von ihrer Existenz, nicht durch den Verzehr der Früchte.
Sieht man ja auch: Der gehorsame Mensch im Paradies hatte ewiges Leben (er starb nicht), weil der Baum des Lebens dort stand, und er konnte Gutes von Bösem unterscheiden, weil der Baum dieser Erkenntnis es durch seine Existenz vermittelte: Du darfst nicht von mir essen, und aufgrund dieses Verbots kannst Du zwischen richtig und falsch entscheiden.
Die Wirkung des Baumes der Erkenntnis
Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen bewirkt durch seine Existenz die Ausbildung der menschlichen Freiheit. Diese besteht daraus, sich für das Gute entscheiden zu können und so frei zu sein, dass ich an dem Baum vorbeigehen kann.
Der Gehorsam ist hierbei durchaus der erste Schritt, denn die Entscheidung für den Gehorsam setzt den Denkprozess in Gang, warum dieses Gebot denn besteht und was Gott sich wohl dabei gedacht hat, mir diesen Baum vor die Nase zu stellen.
Der Baum der Erkenntnis als Parallele zum Gesetz
So wie der Baum des Lebens eine Parallele zum Christus ist, der das ewige Leben vermittelt, so ist der Baum der Erkenntnis die Parallele zum Gesetz.
Die Einzelheiten des Gesetzes sind ja nicht dafür gegeben, dass man sie stumpfsinnig einhält. Sondern sie sind dafür gegeben, dass man über ihr Einhalten zur einer vertieften Erkenntnis Gottes kommt.
Hier nur ein paar recht platte Beispiele, um das Prinzip deutlich zu machen:
- Das Gebot „Du sollst nicht töten“ soll mich zu der Erkenntnis führen, dass Gott ein Gott des Lebens ist. Der am Tode der Sünder keine Freude hat (Hes 18,23) und der „Leben“ als grundlegende Eigenschaft hat, die er dem Menschen vermitteln will. Damit gehen als weiterführende Eigenschaften dann Genuss und Freude einher, die ja nur im Leben zu erleben sind.
- Das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ soll mich zu der Erkenntnis führen, dass Gott ein gebender Gott ist und kein nehmender. Gott schenkt; er beklaut niemanden. In der Folge heißt das aber, dass ich es überhaupt nicht nötig habe, irgendwen zu beklauen, weil mein Gott ein milliardenfacher Milliardär ist und seine Kinder jederzeit umfangreich beschenken will.
- Die doppelte und umso nervtötendere Beschreibung der Stiftshütte und ihrer Einrichtung (ab 2.Mose 25 und ab 2.Mose 37) hat keineswegs den Sinn, uns über die historische Beschaffenheit von diesem Klapptempel zu informieren. Tatsächlich ist die Stiftshütte ein Abbild des Himmels, das Gott dem Mose gezeigt hat (2.Mose 25,9+40), damit jeder Mensch, der in den Tempel hineingeht, weiß, was er zu erwarten hat, wenn er bei Gott vorstellig wird. Die Beschreibung der Stiftshütte beschreibt uns letztlich, wie Gott ist.
So ist auch der Baum der Erkenntnis dazu gepflanzt, dass man aufgrund seiner puren Existenz Dinge erkennt, die im Zusammenhang mit Gott stehen.
Das Funktionieren des Gesetzes auf den Baum anwenden
Der Sinn des Baumes wäre also gewesen, dass die Paradiesbewohner den Baum sehen und ihn immer umgehen müssen und sich deshalb Gedanken machen müssen.
Eine mögliche Erkenntnis hätte an dieser Stelle sein können, dass Gott der Chef ist und die Regeln setzt. Der Mensch ist untergeordnet, nicht gleichwertig.
Eine weitere Erkenntnis hätte sein können, dass es offenbar Dinge gibt, mit denen der Mensch besser nicht in Kontakt kommt. Dass Gott hier darauf hinweist, dass nicht alles gut und zielführend ist, was praktisch möglich wäre.
Man hätte auf die Idee kommen können, dass Gott offenbar mehr über das Gute und das Böse weiß als wir. Denn der Baum ist von ihm; er muss also die nötige Kompetenz haben, um einen solchen Baum aufstellen zu können.
Man hätte sich denken können, dass wenn Gott, den man ja prinzipiell als gut empfand, so etwas böses in den Garten pflanzt – ein Pfui; etwas, von dem man stirbt – dass es dann scheinbar etwas gab, was noch schlimmer war als dieser Baum. Etwas, was einem mehr Ärger machte als ein Baum, von dem man nicht essen darf.
Warum der Mensch aus dem Garten flog
Am Ende beklagt Gott ja, dass es bezüglich des Menschen genau den Erfolg zu vermelden gab, den man angestrebt hatte: „Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses!“ (Gen 3:22).
Allerdings hatte der Mensch dieses Ziel dadurch erreicht, dass er sich auf die Seite des Bösen geschlagen hatte. Damit war der Mensch dem Wesen nach von Gott getrennt, er befand sich im Stand der Sünde, unter der Knechtschaft des Teufels.
Der Mensch hatte in einem Schnellkurs Dinge erkannt, die er nach Gottes Willen vielleicht niemals hätte erkennen sollen, weil sie ihn nicht glücklich machen: Z.B., dass er nackt war. Dass er also eigentlich unperfekt war, sich seiner selbst schämen musste und eigentlich auch für Gott kein adäquates Gegenüber war.
Das war aber kein Zustand, in dem ewiges Leben hilfreich gewesen wäre. Ewiges Leben im Stande der Sünde ist ewige Qual. So war es letztlich ein Gnadenakt Gottes, dass er den Menschen aus dem Paradies rauswarf, bevor der Mensch vom Baum des Lebens essen konnte.
Denn während zu der Zeit, als der Mensch auf Gottes Seite stand, die Erkenntnis und das ewige Leben durch die simple Anwesenheit der Bäume gewährleistet wurden, hätte der Mensch jetzt, nachdem er sich von Gott abgewandt hatte, auch vom Baum des Lebens essen müssen, um ewiges Leben zu erhalten. (War früher übrigens nicht verboten – der Mensch hatte ja das ewige Leben, konnte nicht sterben.)
Nachdem der Mensch den Unterschied zwischen Gut und Böse nun am eigenen Leib erfahren hatte und ihn auch weiterhin am eigenen Leib erfahren musste, war es eine große Freundlichkeit von Seiten Gottes, ihn aus dem Paradies rauszuwerfen.