Buchreligion

Dieser Artikel steht in Zusammenhang mit dem Artikel „Wort Gottes – Geschichte (historisch)“. Dort wird beschrieben, dass das aufgeschriebene Wort Gottes bis zur babylonischen Gefangenschaft in Israel de facto keine praktische Bedeutung hatte, mit der babylonischen Gefangenschaft aber zur einzigen Quelle des Redens Gottes wurde.

In der babylonischen Gefangenschaft wurde der jüdische Glaube zu einer Buchreligion, und hier entstand auch der Beruf des Schriftgelehrten.

Nun war eine Buchreligion aber nicht im Sinne Gottes, denn Gott hatte die Welt geschaffen und Israel erwählt, weil er mit den Menschen zusammen leben und somit auch kommunizieren wollte.

Dass die Menschen in dem Buch über und von Gott lasen, war ja nicht schlecht. Aber es war nach Gottes Meinung völlig unzureichend.

Darum schickte Gott den Israeliten Jesus. Der war das personifizierte Wort Gottes. Durch ihn konnte Gott wieder direkt, unmittelbar und situationsbezogen mit den Menschen reden und auf ihre Fragen unverzüglich antworten.

Und Jesus hatte natürlich auch die Aufgabe, den Israeliten die Buchreligion wegzunehmen.

Wenn man das Neue Testament bezüglich der Zeit nach Pfingsten, also nach der Gemeindegründung liest, dann war dieses Vorhaben auch gelungen. Gott redete zu der neuen Gemeinde direkt und situationsbezogen und auf vielen unterschiedlichen Wegen.

Die Bibel wurde dadurch keineswegs überflüssig, denn Gott sprach seine individuellen, situationsbezogenen Worte durchaus auch durch sein geschriebenes Wort. Aber eben nicht nur. Die Bibel war ein Kanal der Kommunikation, nicht der Einzige. Und das Reden Gottes durch die Bibel geschah auch nicht durch Interpretation ("Auslegung"), sondern durch direktes Reden Gottes durch sein geschriebenes Wort hindurch. 

Die Wiedereinführung der Buchreligion.

Aber es gab in den Gemeinden relativ schnell einflussreiche Gläubige, die konnten Gottes direktes Reden nicht hören.

Und die sagten dann: „Wir sind ja rechtgläubig. An unserem Glauben gibt es ja nichts Großes oder Grundsätzliches auszusetzen. Und wenn wir die Stimme Gottes also nicht hören können, dann gibt es da auch nichts zu hören. Denn wenn es was zu hören gäbe, würden wir, die Rechtgläubigen, es ja hören. Da wir nichts hören, gibt es auch nichts zu hören.“

Das heißt, diese Leute machten in ihrem eigenen Leben eine Erfahrung, und aus dieser ihrer eigenen Erfahrung bastelten sie eine Lehre. Grundlage ihrer Lehre war aber nicht „was sagt Gott“, sondern „was erleben wir“.

Und weil so eine Lehre ja auch einen dogmatischen Unterbau braucht, darum erklärten diese Leute: Die ersten 200 Jahre nach der Auferstehung war eine Übergangszeit, da war das neue Testament noch nicht fertig, darum hat Gott noch persönlich mitgeredet. Seit das neue Testament fertig ist, braucht Gott sich nicht mehr verbal einzumischen, denn es steht ja alles in dem Buch drin.

Und diese Leute entdeckten auch eine neutestamentliche Bibelstelle, die ihre neue Lehre stützte: 1.Korinther 13,9-12

9 Denn wir erkennen stückweise, und wir weissagen stückweise; 

10 wenn aber das Vollkommene kommt, wird das, was stückweise ist, weggetan werden. 

11 Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind; als ich ein Mann wurde, tat ich weg, was kindlich war. 

12 Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin.

Und sie sagten: Das „Vollkommene“ von Vers 10 ist das neue Testament.

Ja klar: Wer die Bibelstelle im Zusammenhang liest, merkt schon, dass diese Interpretation nicht passt. Aber die Gläubigen, die mit den übernatürlichen Geistesgaben nicht zurechtkamen, waren so glücklich, dass sie nun auch eine Bibelstelle hatten, die ihren Mangel begründete, dass sie auf den Zusammenhang des Textes nicht so sehr achteten.

Und so eine Buchreligion hat gegenüber einer Geistesreligion natürlich ihre Vorteile:

  • Man verfügt über Gottes Reden. Man ist nicht darauf angewiesen, auf Gott zu warten. Man schlägt das Buch auf, und das Reden Gottes ist da.
  • Man ist sicher vor abstrusen Anweisungen. Es kommen nicht mehr solche Vorschläge von Gott wie
    • Gideon soll die Zahl der Soldaten drastisch reduzieren
    • Die Prophetenwitwe soll sich so viele Gefäße wie möglich leihen, alle im Haus stapeln, die Tür von innen verschließen und dann schauen, was passiert.
  • Man ist sicher vor der direkten Einmischung Gottes im Sündenfall. Sowas wie bei David wegen der Sache mit Batseba oder bei den letzten Königen wegen der Geheimverhandlungen mit Ägypten (Jes 30,1+2; Jes 31,1; Jer 2,36). Gott kann einem nicht mehr reinreden, schon gar nicht mehr öffentlich.
  • Gott kann nur noch das sagen, was meine Vorstellungskraft sich vorstellen kann. Was ich mir nicht vorstellen kann, kann Gott auch nicht mehr sagen. Denn da alles Reden Gottes durch meine Interpretation des geschriebenen Wortes entsteht, sind die Aussagen Gottes auf die Möglichkeiten meines Gehirns begrenzt. Was ich mir nicht vorstellen kann, kann ich aus dem Text auch nicht herauslesen.

Und wegen all dieser Vorkommnisse und Vorteile haben wir jetzt in den meisten freikirchlichen Gemeinden eine Buchreligion. (Von den Volkskirchen brauchen wir in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden.)