Titus 2,5 – bürgerliche Anständigkeit
Über manches, was in den neutestamentlichen Briefen steht, kann man sich kraftvoll wundern.
Zum Beispiel über diese ganze kleinbürgerliche Anständigkeit und Ehrbarkeit.
Während wir Jesus ja irgendwie als Revolutionär verstehen, der sich gegen die bestehenden gesellschaftlichen Regeln verhalten hat, so verlangt Paulus von den Ältesten, dass sie „ein gutes Zeugnis von denen haben, die draußen sind“ (1.Tim 3,7). Die Gesellschaft muss diesen Leuten also Angepasstheit attestieren.
Die müssen den Müll richtig trennen und dürfen nicht bei rot über die Ampel gehen.
Einen Vers später (1.Tim 3,8) heißt es von den Diakonen, dass sie „ehrbar“ sein müssen. Ist die Frage, ob die unter diesen Umständen beim Christopher Street Day mitmachen dürfen. (Ach nein, ohnehin nicht, die sollen ja verheiratet sein.)
Auch die Anforderungen an die Frauen sind in den neutestamentlichen Briefen von geradezu erschreckender Langweiligkeit. Scheinbar muss man als Christin eine etwas dümmliche graue Maus sein. Und hier in Titus wird dieses Unterdrückungsmodell von Generation zu Generation weitergegeben.
Überhaupt wird diese spießerhafte Bravheit in den Pastoralbriefen mit Nachdruck verkündet: Auch die Sklaven sollen ihren Herren in den Hintern kriechen (1.Tim 1,6), und die Kinder sollen ihren Eltern gehorsam sein (Eph 6,1; Kol 3,20; 1.Tim 3,4), wobei sicher keine Dreijährigen gemeint sind, denn die würden diese Texte weder lesen noch zu hören bekommen.
Konservatives Heute
Konservative bibeltreue Gemeinden wollen diese Lebensmuster bis heute möglichst eins zu eins erhalten. Dabei ist es natürlich erstmal löblich, dass diese Leute der Bibel gehorchen wollen und diese als Wort Gottes ernst nehmen wollen.
Aber man nimmt Texte eben nicht ernst, wenn man sie nach dem Buchstaben umsetzt.
Man müsste nach dem Sinn der Anweisung fragen. Warum verlangt Paulus so etwas von seinen Briefempfängern?
Und die Begründung für diese Anweisungen steht ja in den Briefen selbst drin, direkt hinter den Anweisungen:
· Titus 2,8 damit die Gegenseite nicht Schlechtes über uns sagen kann
· Titus 2,5 damit das Wort Gottes nicht verlästert werde
· 1. Tim 6,1 damit nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde
· 1.Tim 3,7 damit man nicht in übles Gerede kommt
· 2.Petrus 2,2 damit nicht die Wahrheit verlästert wird
Die Begründung ist also nicht, dass dieses Verhalten der ewige und unantastbare Wille Gottes für alle Zeiten und alle Orte ist. Sondern wenn es hier einen Willen Gottes gibt, so ist es der, dass das Evangelium und die Gemeinde innerhalb der Gesellschaft keinen schlechten Ruf hat.
Petrus hat die gleiche Begründung aus der anderen Perspektive: 2.Petr 2,2
2 Und viele werden ihren Ausschweifungen nachfolgen, um derentwillen der Weg der Wahrheit verlästert werden wird.
Nicht noch schwieriger
Wenn man die Sache mit Gott und Jesus richtig versteht und richtig lebt, dann ist das schon eine sehr krasse Angelegenheit. Das Evangelium ist an zentralen Stellen völlig gegensätzlich zur Funktionsweise der Welt: Geld, Neid, Hass, Streit, Recht haben. Wenn man es gut macht, dürfte es ziemlich schwierig sein, Menschen für diese Lebensweise zu begeistern.
Unter diesen Umständen ist es nicht sinnvoll, die Sache mit Jesus noch abschreckender zu machen. Indem man alle gesellschaftlichen Standards, an welche die Leute gewöhnt sind, außer Kraft setzt.
Heißt für damals: Man sollte die streng hierarchische Weltordnung, die damals herrschte, nicht in Frage stellen. Dass Männer übergeordnet sind und Frauen untergeordnet, ist vor Gott vermutlich völlig egal. Aber wenn jetzt die Frauen zu predigen anfangen oder ihren Männern offen widersprechen, dann empfinden viele Menschen die Gemeinde als so unanständig, dass sie mit dem Evangelium nichts zu tun haben wollen. Was nicht dem Willen Gottes entspricht, der ja im Grunde will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
Das Wanken der Welt
Man hielt in damaliger Zeit und bis in die Neuzeit hinein die Einteilung der Menschheit in „Stände“ für gottgegeben oder für ein Naturgesetz. Dass es Sklaven und Freie gab, sah man als ewiges Gesetz an – denn schon beim Pharao gab es das, und Abraham hatte abhängige Mägde, die er einfach schwängern oder wegschicken konnte.
Wenn das Evangelium jetzt die Sklaven und ihre Herren auf eine Stufe stellt – und sei es nur innerhalb der Gemeinde – dann würde das als ein Rütteln an den Grundfesten der Welt empfunden werden. Ähnlich wäre es, wenn man bei uns Fußgängern prinzipiell Vorfahrt/Vorgang vor allen Motorfahrzeugen geben würde.
Wenn man jetzt eine Frau in der Gemeinde lehren ließe, und ihr Mann sitzt im Publikum und muss sich von seiner Frau belehren lassen – es ging einfach nicht. Dass vor Gott alle Menschen gleich sind, das war schon eine unerhörte Wahrheit. Aber die Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft konnte man jetzt nicht zusätzlich in Frage stellen.
Historisch und so
Wie das Verlästern der Wahrheit passieren kann, haben wir in der Weltgeschichte des Öfteren gesehen. Hier nur ein paar Beispiele:
· Über Jahrhunderte hinweg waren im Zweifelsfall die Juden die Sündenböcke. Egal ob es Hungersnöte oder Seuchen oder Wirtschaftskrisen waren, schon Nero hat die Juden aus Rom vertrieben, und seither sind viele andere Fälle bekannt. Eine Gruppe, die so anders lebt als der Rest der Menschheit – die kein Schweinefleisch essen und Samstags kein Feuer anzünden dürfen und ihre Söhne beschneiden und komische Kopfbedeckungen tragen – solche Leute mag man nicht, und solche Leute sind im Zweifelsfall die Schuldigen.
· Die Hexenprozesse haben es aus einer anderen Perspektive gezeigt. Wer anders lebt als der Durchschnitt, der ist im Zweifelsfall mit dem Teufel verbündet und ist schuld an allem Unheil.
· Heute sind es in den Verschwörungstheorien mal wieder die Freimaurer, denen man Böses nachsagt. Einfach deshalb, weil das so undurchsichtig ist, was die machen. Und wenn man es nicht versteht, dann entstehen schnell Verdächtigungen. Die wollen bestimmt die heimliche Weltherrschaft. Oder uns alle vergiften.
· Den Christen wurde mitunter schon vorgeworfen, sie würden beim Abendmahl Kinder verspeisen. Weil man es nicht verstand und weil man sich etwas anderes nicht vorstellen konnte.
Jesus hat selber gesagt: „Wenn sie den Hausherren Beelzebub genannt haben, wieviel mehr seine Hausgenossen“ (Mt 10,25). Die Wahrheiten des Evangeliums sind, wenn sie tatsächlich gelebt werden, extrem krass. Man muss die Leute nicht zusätzlich gegen sich aufbringen, indem man gegen gesellschaftliche Regeln verstößt, die nur Zeitgeist sind und in Gottes Augen egal.
Das Elend heutiger konservativer Gemeinden
Heute sind die konservativen „bibeltreuen“ Gemeinden leider vor allem dafür bekannt, dass sie auf diesen moralischen Regeln bestehen, die eigentlich nur dafür gegeben wurden, damit die Gemeinde nicht mehr auffiel als ohnehin schon.
Die heutigen „bibelstreuen“ Gemeinden sind nicht bekannt für ihre Kraft gegen das Böse. Das Übernatürliche, das mit Jesus in die Welt gekommen ist, findet bei ihnen nicht statt. Die Kraft, die Paulus von der Gemeinde fordert (1.Kor 2,4; 1.Kor 4,19), haben sie nicht. Dafür haben sie Beharrungsvermögen auf uralten gesellschaftlichen Umständen, die sie für göttlich halten, weil sie zufällig zur Zeit des Paulus galten und darum in seinen Briefen vorkommen.
Damit haben die konservativen Gemeinden den Willen Gottes gerade ins Gegenteil verkehrt: Die Regeln, die eigentlich dafür gegeben waren, dass die Gemeinde nicht durch gesellschaftliche Unangepasstheit unangenehm auffiel, werden jetzt dazu benutzt, dass sie genau dieses tut: Die rechtliche Gleichheit von Mann und Frau, die gesellschaftlich gilt, findet in der Gemeinde nicht statt. Die freie Wahl der Lebensform (verheiratet oder nicht, Kinder oder nicht), die überall in der Gesellschaft gilt, ist für Älteste und Diakone nicht vorgesehen.
Wobei man durchaus großzügig ist (was die ganze Verlogenheit dieses Systems offenbart): Die Anweisungen bezüglich der Witwen aus 1.Tim 5 ignoriert man; die Kopfbedeckung aus 1.Kor 11 ist abgeschafft; und praktisch ist es in den Ehen durchaus so, dass die Frauen gleichberechtigt handeln (manche haben sogar Kontovollmacht!) oder sogar mehr zum Unterhalt der Familie beitragen als die Männer.
Es richtig machen
Wenn man es richtig machen wollte, dann sollten die Christen sich in ihrem praktischen Leben nicht von den Besten der politischen Gesellschaft unterscheiden. (Von den Schlechten darf man sich durchaus unterscheiden.) Die Werte, die in der aktuellen Gesellschaft als die besten, edelsten und am meisten lobenswerten gelten, die sollten auch die Christen leben.
Und dann sollten sie zusätzlich noch das haben, wegen dem Jesus gekommen ist: Die Kraft und die Liebe und die Vergebung. Die Weissagung, die Prophetie und alle die übernatürlichen Dingen, die man nur von Gott bekommen kann.
Es gibt Sünde in der Gesellschaft, ohne Zweifel. Hat es immer gegeben, wird auch so bleiben. An den Sünden sollen Sie natürlich nicht teilnehmen. Aber vieles, was der Zeitgeist als gut und edel ansieht, ist vor Gott völlig egal. Darum sollte man die Bekehrung eines Menschen nicht davon abhängig machen, dass er Regeln einhält, welche die Gesellschaft schon vor 200 Jahren abgeschafft hat.
Es gibt einiges, das in Gottes Augen zählt.
Gesellschaftliche Regeln sind es nicht.