Römer 12,15 

Nein, Sie brauchen jetzt nicht zu weinen.

Diese Bibelstelle, die gerne für schmachtendes Mitleiden und angebliche Empathie missbraucht wird, steht in einem gewissen Zusammenhang. Wenn man sie aus diesem Zusammenhang herausreißt und sie als Einladung zu einer gemeinsamen Depression benutzt, dann ist das eine Vergewaltigung des göttlichen Wortes.

Der Zusammenhang

Paulus beschreibt ab Vers 3 die Machtkämpfe, die in den Gemeinden stattfinden. Da er hier nach Rom schreibt, wo er zu der Gesamtgemeinde keine besondere Beziehung hat, drückt er sich recht vorsichtig und diplomatisch aus. Aber der Hinweis in Vers 3, dass Paulus diese Sätze aufgrund seiner besonderen Begnadigung schreibt und dass nicht einer sich für wichtiger und besser halten soll als die anderen, spricht ja eine deutliche Sprache.

Denn der normale Umgang der Welt mit den Weinenden und den Fröhlichen, der ja in die Gemeinde mit hineingerutscht ist, ist ja dieser:

Der normale Umgang mit den Weinenden:

„Ach, jetzt ist der Aktienmarkt zusammengebrochen, und Schwester Edeltrud hat 10.000 Aktien und jetzt einen Verlust von 50.000.-€? Nein, was tut uns das jetzt aber leid! Wo sie doch immer extra wenig in die Kollekte getan hat, um ihren eigenen Reichtum mehren zu können! Und zum gemeinsamen Essen bringt sie immer billigen Nudelsalat und Buletten vom Aldi. Vielleicht hätte sie doch besser den Timotheusbrief gelesen oder was Jesus über den Schatz im Himmel gesagt hat. Wobei, so schlecht kann es ihr ja noch nicht gehen, sie ist ja heute morgen wieder mit dem Porsche Cayenne vorgefahren. Vielleicht wäre es für ihre Demut ganz hilfreich, wenn die Aktien noch ein wenig fallen?“

„So so, der Erwin hat sich den Tripper geholt? Na, das tut uns ja soooooo leid! Haben wir ja immer gesagt, dass die Gemeindeleitung da längst etwas hätte unternehmen müssen. Wir haben unser ganzes Leben lang keusch gelebt und uns jedes diesbezügliche Vergnügen verkniffen, und er? Nun, auf diesen Moment haben wir lange genug gewartet. Jetzt setzen wir uns im Gottesdienst aber so hin, dass wir das sehen können, wenn es ihn juckt und er sich unauffällig zu kratzen versucht!“

Der normale Umgang mit den sich Freuenden

„So, der Tobi hat den Triathlon gewonnen? Das ist ja gaaaanz super. Immerhin erfährt man so, dass er noch lebt. Im Gottesdienst hat man ihn ja schon lange nicht mehr gesehen. Und Gott würde sich wahrscheinlich mehr freuen, wenn er eine Medaille im Bibellesen gewinnt als im sinnlosen Rumrennen. Und wieviel Interviews der jetzt gegeben hat! Ich male seit 20 Jahren Aquarelle, und die will niemand sehen und erst recht keiner kaufen! Und der rennt ein paarmal im Kreis, und schon reißen sich alle um ihn. Na warte nur, Du wirst schon auch noch alt!“

„Ach, promoviert hat die Edeltrud? Summa cum laude? Da kann man es ja verstehen, dass sie nie in die Bibelstunde kommt, wo nur die Leute mit der abgeschlossenen Lehre sitzen. Die hat das ja nicht nötig. Obwohl die Wittgenstein vermutlich besser kennt als ihre Bibel. Aber im Grunde kann man ja froh sein, dass sie von der Bibelstunde wegbleibt. Die wüsste dann alles besser. Irgendwann platzt der nochmal das Hirn vor lauter Intelligenz. Aber auf die Idee, ihre Klugheit dafür zu verwenden, unsereins bei der Steuererklärung zu helfen, kommt die ja nicht.“

Zusammenfassung des Zusammenhanges

Der normale Umgang mit den Erfolglosen und Glücklosen ist eher Schadenfreude, selber Schuld, und das stolze Gefühl, dass ich die Dinge besser hinbekomme.

Der normale Umgang mit den Erfolgreichen und Gesegneten ist Neid und Missgunst. Haben die nicht verdient. Ich hätte es verdient. Gemein ist das!

Und das ist leider auch in der Gemeinde so. Wehe, die Kinder wollen jemand anderen für die Kinderstunde als die jahrzehntelange Kinderstundenleiterin! Wehe, ich werde nicht wieder in den Gemeindevorstand gewählt!

Der Maßstab

Der Maßstab für den Umgang mit den Weinenden und den sich Freuenden ist Jesus. Und aus Jesu Verhalten mit den Benachteiligten lässt sich kaum eine Einladung zu gemeinsamer Trübsal ableiten.

Wenn Jesus auf einen Menschen im Unglück gestoßen ist, hat er das Unglück ernst genommen. So ernst, dass er etwas dagegen getan hat.

Und manchmal war Jesus traurig oder wütend über das Elend. Aber dann hat er sich nicht lange damit aufgehalten, sondern hat etwas gegen das Elend getan.

Und wenn die Frauen, die Jesus gesalbt haben, über das Ziel hinausgeschossen sind in ihrer Freude über ihn, dann hat Jesus sie gelassen. Und wenn die ausgesandten Jünger zurückkamen und sich gefreut haben, dass die Dämonen ihnen untertan sind, dann hat Jesus ihnen einen Grund genannt, warum sie sich noch mehr freuen können.

Und als die Gemeinde in Antiochia erfuhr, dass für Judäa eine große Hungersnot bevorstand, haben sie nicht emphatisch geklagt, sondern Geld gesammelt und hingeschickt. (Apg 11,28)

Fazit:

Mit den Weinenden zu weinen und sich mit den Freuenden zu freuen ist erstmal ein gegenteiliges Verhalten im Vergleich zur Welt.

Und es ist ein Ernstnehmen der (eingebildeten oder tatsächlichen) Lage des Anderen, die sich aber nicht in warmen Worten und entsprechender Mimik ausdrückt, sondern in Lösungsansätzen und Gestaltungshilfe fürs Leben.