1.Korinther 5,1 - ich heirate meine Stiefmutter

Im ersten Korintherbrief regt Paulus sich ein ganzes Kapitel lang auf: 1. Korinther 5,1

1Überhaupt hört man, dass Unzucht unter euch ist, und zwar eine solche Unzucht, die selbst unter den Nationen nicht stattfindet: dass einer seines Vaters Frau hat.

Nein, der hat nicht seine Mutter geheiratet. Da hätte sich Paulus noch ganz anders aufgeregt.

Der Vater dieses Mannes hatte wieder geheiratet - wir wissen weder, ob wir hier von einer Ehe mit nur einer Frau oder mit mehreren reden, noch wissen wir, ob der Vater sich von der Frau hatte scheiden lassen oder ob der Vater gestorben war und der Sohn die Witwe geheiratet hatte.

Wir müssen jetzt auch nicht Haare spalten und darüber streiten, ob es sich um eine "wilde" Ehe oder um eine offizielle Ehe gehandelt hat. Das macht hier keinen Unterschied.

Nur zum Verständnis: Wenn Männer nach dem Tod ihrer Ehefrau neu heirateten, dann wählten sie oft ein sehr junges Mädchen, also eine Jungfrau. Dass man als Witwer eine gleichaltrige Frau heiratete, war damals nicht so verbreitet wie heute. Und in so einem Fall hatte der Sohn nun also eine Stiefmutter, die möglicherweise genauso alt war wie er, oder sogar jünger. Da konnte es schon geschehen, dass man Gefallen an einander fand.

Irgend etwas in diese Richtung haben wir uns hier vorzustellen.

Nicht bei uns

Nun drückt Paulus sich hier so deutlich und wuchtig aus, dass wir geneigt sind, automatisch mit dem Kopf zu nicken: So eine Unzucht! Schlimmer als die Heiden!

Tatsache ist allerdings: Bei uns ist das gar nicht verboten, die Ex-Frau oder Witwe der Vaters zu heiraten. Ist vielleicht nicht alltäglich, aber vermutlich würde sich niemand groß aufregen, wenn so etwas vorkäme.

Im Judentum war es allerdings verboten: Levitikus 20,11

11Und wenn ein Mann bei der Frau seines Vaters liegt; er hat die Blöße seines Vaters aufgedeckt, beide müssen getötet werden; ihr Blut ist auf ihnen.

Deuteronomium 27,20

20Verflucht sei, wer bei der Frau seines Vaters liegt, denn er hat die Decke seines Vaters aufgedeckt! Und das ganze Volk sage: Amen!

Und im römischen Reich war es auch verboten. Das wissen wir, weil Cicero es in "pro Cluentio" 6.15 erwähnt und Gaius darüber in den "Institutiones Gai" 1.63 schreibt. Das bei Cicero ist eine gerichtliche Verteidigungsrede, und Gaius hat die einzige uns noch bekannte grundlegende Abhandlung über das römische Privatrecht geschrieben.

Somit hatte Paulus Recht, als er schrieb, dass so etwas noch nicht mal bei (verdorbenen) Heiden vorkommt.

Das Heiraten der Stiefmutter war also überall verboten, nur in der Gemeinde meinte man, es machen zu können. Wegen der Freiheit, die der Christus bringt.

Warum es im Altertum verboten war

Die Heiratsverbote im Altertum hatten nichts mit unserem Begriff der Inzucht zu tun. Vielleicht wusste man schon, dass es für das Kind nicht gut ist, wenn die Eltern nahe Verwandte sind, aber für die Rechtsbestimmungen spielte die Genetik keine Rolle.

Dafür waren Begriffe wie die "Ehre" ungeheuer wichtig. Ja, das ist das, was bei unseren orientalischen Mitbewohnern zu sogenannten Ehrenmorden führt. Und was wir überhaupt nicht nachvollziehen können. Weil wir keinerlei Sinn für diese Art von "Ehre" haben.

In diesen Bereich gehört es, dass es der sozialen Vernichtung des Vaters gleich kam, wenn man sich seine (Ex-)Frau nahm. Das war die brutalste Art von Machtkampf gegen den eigenen Vater, den man sich vorstellen kann. Der Vater war danach vollkommen entwürdigt, entehrt, in Scham und Schande. Auch dann, wenn er schon gestorben war.

Ein paarmal kommt dieser Machtkampf in der Bibel vor:

  • Genesis 35,22

22Und es geschah, als Israel in jenem Land wohnte, ging Ruben hin und lag bei Bilha, der Nebenfrau seines Vaters. Und Israel hörte es.

  • Genesis 49,4

4Du bist übergewallt wie das Wasser, du sollst keinen Vorrang haben, denn du hast das Lager deines Vaters bestiegen; da hast du es entweiht. Mein Bett hat er bestiegen!

  • 1. Chronik 5,1

1Und die Söhne Rubens, des Erstgeborenen Israels – denn er war der Erstgeborene; weil er aber das Lager seines Vaters entweiht hatte, wurde sein Erstgeburtsrecht den Söhnen Josefs, des Sohnes Israels, gegeben; und er wird nicht nach der Erstgeburt im Geschlechtsregister eingetragen;

  • 2. Samuel 16,22 (ELB 2006)

22Da schlug man für Absalom das Zelt auf dem Dach auf, und Absalom ging ein zu den Nebenfrauen seines Vaters vor den Augen von ganz Israel.

  • In 1.Kö 2,13ff will Adonia die letzte Frau, die in Davids Bett lag, heiraten. Um auf diese Weise Salomo den Thron streitig zu machen.

Warum schreibt Paulus das?

Wir haben hier im Korintherbrief also eine "schwere Sünde",

  • die zwar im Gesetz des Mose beschrieben war - aber die Bestimmungen des mosaischen Gesetzes sind für die Christen nicht mehr bindend.

  • die zwar zur damaligen Zeit von der großen Mehrheit der Bevölkerung genauso bewertet wurde, aber wir leben nicht mehr im Altertum.

  • die in unserer Gesellschaft auch beim besten Willen nicht mehr als Sünde zu verkaufen ist.

Aber wenn es in unserer Gesellschaft ganz sicher keine Sünde mehr ist - warum schreibt Paulus dann so etwas?

Unter einem heiligen Lebensstil verstand Paulus den besten Lebensstil, den sich ein Ungläubiger in der jeweiligen Gesellschaft vorstellen konnte - plus 10%.

Wir würden die angestrebte Haltung vielleicht als "edel" bezeichnen - plus 10%.

Wobei sich diese Haltung noch gar nicht auf die Besonderheiten bei Jesus beziehen wie die Feindesliebe oder die Opferbereitschaft oder die Bereitschaft zum Dienen. Das kommt alles noch dazu. Ebenso wie Beten und sich keine Sorgen machen.

Bei den Ermahnungen für den Alltag ging es Paulus immer darum, dass die edelsten Menschen einer Gesellschaft vom Lebensstil der Gläubigen beeindruckt waren. Die Gläubigen müssen die edelsten Menschen einer Gesellschaft übertrumpfen.

Das war schon vor Jesus so: Das Gesetz der Israeliten sollte die Heiden in bewunderndes Erstaunen versetzen. Zumindest die Heiden mit einem hohen ethischen und philosophischen Niveau. Alle die, die ein Gefühl für wahre Menschlichkeit und ein gutes Leben hatten. Das konnte auch der Dorftrottel sein, der rein gefühlsmäßig erkannte, dass die eine Art zu leben offenbar besser war als die andere.

Israel sollte Licht sein unter den Völkern, und die Christen ebenso.

Aber man kann nicht Licht sein, wenn man die grundlegenden Überzeugungen seiner Umgebung mit Füßen tritt.

Die Frage ist also nicht: Ist das Heiraten der Stiefmutter eine objektive und ewige Sünde? Sondern die Frage ist: Befähigt es meine Mitmenschen, Gott zu erkennen? Oder verhindert es das?

Die Frage ist nicht: Ist das Ablegen der Kopfbedeckung eine objektive und ewige Sünde? Sondern die Frage ist: Befähigt dieses Verhalten meine Mitmenschen, Gott zu erkennen? Oder schreckt es sie mehr ab?

Die Frage ist nicht: Ist Sklaverei erlaubt, weil die Bibel schließlich nichts dagegen sagt und sowohl Paulus als auch die alttestamentlichen Schreiber sie akzeptieren?

Der Fehler

Nun hatten die Korinther sehr richtig erkannt, dass der auferstandene Jesus ihnen eine ungeheure Freiheit brachte.

Wir Menschen im "freien" Westen können das vielleicht nicht angemessen würdigen. Aber für Menschen, die mit Sklaverei und Despotismus und starren gesellschaftlichen Regeln wie z.B. dem absoluten Patriarchat lebten, taten sich mit Jesu Auferstehung ungeahnte Möglichkeiten auf.

Das hatten die Korinther richtig erkannt. Aber sie schauten jetzt nur auf sich selbst und ihre eigene neue Freiheit. Sie wollten jetzt endlich diese Freiheit ausleben.

Auf die Begrenzungen anderer Menschen (also auf deren mangelnde Freiheiten) nahmen sie keine Rücksicht.

Der heutige Fromme würde sagen: Da war nicht viel Liebe zu den Mitmenschen. Man stieß die Leute dermaßen vor den Kopf, dass die nie wieder etwas mit diesem Jesus zu tun haben wollten.

Bedeutung für uns

Wir Heutigen müssen uns ein bisschen von unserem Sündebegriff verabschieden.

Den Bibeltreuen hat man beigebracht, dass alles das Sünde ist, was gegen den Text der Bibel verstößt. Sünde ist also etwas eindeutig feststellbares und nachweisbares. Lies halt, da steht es doch!

Aber schon im Alten Testament war der Begriff der Sünde sehr flexibel. Es kam immer darauf an, wer es tat. Und warum er es tat. Sünde definierte sich oft nicht über eine konkrete Handlung, sondern über den Zusammenhang, in dem die Handlung stattfand. Wenn Sie das Alte Testament genau lesen, erscheinen die Konsequenzen für Sünde mitunter sehr ungerecht zu sein. Mose durfte wegen einer Kleinigkeit nicht ins gelobte Land, aber David hat gelogen und gemordet (u.a. in Ziklag) ohne ernsthafte Konsequenzen.

Sie können also ruhig Ihre Stiefmutter heiraten. Das stört niemanden. Aber ob es wirklich Licht für Gott ist, wenn Sie Moslems provozieren und ärgern?

Oder wenn Sie vegane Aktivisten darauf hinweisen, dass ihre Meinung gegen Genesis 9,3 verstößt?

Natürlich war der Affront des Korinthers gegen die Gesellschaft seiner Zeit viel krasser. Es fällt uns, die wir innerhalb des Systems unserer Gesellschaft leben, schwer, sich etwas Vergleichbares für unsere Zeit vorzustellen. Öffentlichen Sex auf dem Schlossplatz? Propagierung von Sex mit Kindern (die Grünen hatten so etwas mal im Parteiprogramm)? Sie könnten die UN-Charta der Menschenrechte ablehnen, wegen Paragraph 18. Oder zur gesellschaftlichen Ächtung aller Mormonen aufrufen.

Und andererseits sollen Sie nicht gleichförmig dieser Welt werden (Römer 12,2). Anpassung an gesellschaftliche Standards ist hier kein Patentrezept.

Die Lösung

In der Bibel findet sich relativ oft die Aufforderung, zu hören. Das wäre hier die Lösung.

Denn mit Lesen alleine kommen wir nicht weiter.

Ob eine Sache nur irgendwelchen biblischen Prinzipien entspricht, oder ob sie wirklich gut ist, das kann uns im Endeffekt nur Gott sagen.

Die Geschichte von der Hochzeit der Stiefmutter hilft uns nicht, eine Sünde zu erkennen oder zu vermeiden.

Sondern sie zeigt uns, wie daneben unser eigenes Empfinden oft sein kann. Hier sogar: Wie sehr sich eine ganze Gemeinde irren kann.

Obwohl sie dem Evangelium so hingegeben war.

Darum: Fragen Sie im Zweifelsfall Gott.

Und wenn kein Zweifelsfall vorliegt, dann auch.

Denn auch wenn Sie eine feste Meinung und eine solide Überzeugung haben, muss das noch lange nicht heißen, dass Gott Ihre Überzeugung teilt.