Hebräer 1 - die Vergewaltigung von Bibelstellen

Wenn man sich die alttestamentlichen Bibelstellen anschaut, die der Autor im ersten Kapitel benutzt, kann einem Vertreter der reinen Lehre schon das kalte Grausen kommen.

Nicht nur, dass der Autor die griechische Bibel verwendet, deren Inhalt sich von der (guten!) hebräischen gelegentlich deutlich unterscheidet.

Sondern selbst die Bibelstellen, die wir heute noch genauso vorliegen haben wie der Autor damals, benutzt er mit einer Freiheit, die den peniblen Bibelausleger schnell an den Rand der Fassungslosigkeit bringt.

Wobei der kleinliche Bibelausleger der heutigen Zeit ja dadurch entstanden ist, dass man die Wahrheit über Gott sowohl gegenüber manch seltsamer Sekte als auch gegenüber der vollkommen liberalen und variablen Theologie der großen Kirchen verteidigen muss.

Exakte Bibelauslegung hat also schon ihren Grund.

Dieser Grund ist aber für den Autor des Hebräerbriefes nicht wichtig. Der muss die Wahrheit Gottes nicht anhand eines Kommas im Text verteidigen. Oder aufgrund der sprachwissenschaftlichen Analyse der ursprünglichen Herkunft des griechischen Wortes.

Dieser Mann kennt Jesus, und er hat ihn verstanden.

Der braucht sich nicht darüber zu sorgen, dass er sich durch falsche Interpretationen des Bibeltextes den feurigen Zorn der Gottheit zuzieht.

Der ist sich Gottes und seines Sohnes so sicher, dass er nicht vorsichtig die Worte suchen muss, um keine Blasphemie zu begehen.

Dem ist die Größe Christi so dermaßen vor Augen, dass er sie nicht in den Worten der Schrift lesen muss, sondern sie auf die Worte der Schrift anwenden kann.

Gegensatz zu heute

Die Christen, die heute intensiv Bibel lesen, tun das, um mehr über Gott und seinen Willen zu erfahren. Sie hoffen Gott zu finden in den Texten und etwas zu lernen über die ewigen Dinge. Sie wünschen sich, dass ihnen die Schrift Jesus erklärt.

Unser Autor erklärt durch Jesus die Schrift.

Er geht davon aus, dass das alte Testament eigentlich nur durch Jesus wirklich zu verstehen ist, weil alles im AT auf Jesus hinweist. Ziel des Alten Testamentes ist Jesus. Aber ohne, dass Jesus da war, kann man das AT nicht richtig verstehen. (Wie man ja z.B. bei den Pharisäern sieht.)

Und da der Autor Jesus so gut und sicher kennt, kann er sich die Freiheit leisten, durch Jesus die Schrift zu erklären und nicht andersrum.

Frau Merkel

Man versteht es, wenn man es auf eine Person des öffentlichen Lebens überträgt.

Man kann „Frau Merkel“ erklären, indem man ihre Reden, Interviews und politischen Handlungen analysiert und interpretiert. Solange, wie man Frau Merkel nicht persönlich kennt (und zwar gut), hat man auch keine andere Möglichkeit.

Wenn man Frau Merkel aber gut kennt, kann man alle ihre Reden, Interviews und politischen Handlungen von Frau Merkel her erklären. Der Ausgangspunkt ist, wie Frau Merkel denkt, wie sie ist, wie sie empfindet, wie sie gewohnheitsmäßig handelt und reagiert.

Das Elend

Das Elend ist halt, dass heute die wenigsten Gläubigen Gott oder Jesus so gut persönlich kennen, dass sie frei über ihn reden und urteilen können und sich nicht durch Bibelzitate drangsalieren lassen müssen, die sich dann auch noch widersprechen.

Adolf Schlatter hat an dieser Stelle gemeint, dass der Autor die Bibel als Meister gelesen hat, während wir sie als Schüler lesen.

Nun ja, das ist ja, was Paulus auch schon bemängelt hat (1.Kor 3,2), dass in den Gemeinden jahrelang Milch getrunken wird, weil Fleisch noch nicht geht. Und unser Autor sagt in Heb 5,12 das gleiche.

Insofern lohnt es sich, den Hebräerbrief zu lesen. Weil man nicht von einem liest, der eine Meinung hat. Sondern der Erfahrung hat und Wissen.

Wir lesen die Worte von einem, der nicht über Jesus spekulieren muss.

Der kennt ihn. Und zwar souverän.