Psalm 80 – Erwählung als Problem
Soviel kann man sagen: Das Problem ist klar definiert.
Und der ganze Psalm dreht sich eigentlich nur um dieses Problem.
Das Problem besteht nicht darin, dass es der Gemeinde schlecht geht.
Es geht ihr zwar schlecht, aber das könnte man als eine Phase im ständigen Auf und Ab des Lebens verbuchen.
Das Leben hat niemandem versprochen, dass er es dauerhaft gut haben wird.
Das Leben ist weder gut noch gerecht und bedient auch keinen anderen ethischen Wert.
Dass es der Gemeinde schlecht geht, könnte man also als Ergebnis von Geschichte und Zufällen abhaken.
Man könnte auch passende Gegenmaßnahmen treffen:
- auswandern
- aufrüsten
- sich mit den Feinden verbünden
- einen anderen Lebensstil pflegen, der weniger Widerstand erwarten lässt.
Das Problem besteht darin, dass Israel da, wo es jetzt steht, von Gott hingestellt worden ist.
Israel hat sich das Land nicht ausgesucht, hat sich den Gott nicht ausgesucht, hat sich sein Schicksal nicht ausgesucht.
Und das betont der Psalm immer wieder, denn das ist das Problem:
- Gott hat Israel als Weinstock aus Ägypten geholt und in Palästina eingepflanzt (V.9)
- Gott hat dafür gesorgt, dass dieser Weinstock Platz hat (V.10)
- Gott hat mit seiner rechten Hand, also mit der starken Hand, den Weinstock gepflanzt (V.16 + 18)
- Gott hat Israel als Sohn für sich, für Gott, stark werden lassen (V.16)
Israel besteht also nur wegen Gott.
Die Existenzberechtigung Israels basiert auf Gottes Entscheidungen.
Alle anderen Völker der Erde können sich ihre Existenzberechtigung aussuchen, können etwas erfinden.
Sie können auch sagen, sie selbst seien ihre Existenzberechtigung.
Alle anderen Völker können ihre Existenz damit begründen, dass sie die Menschen, die zu diesem Volk gehören, schützen wollen oder sogar zu Glück und Wohlstand kommen lassen wollen.
Alle anderen Völker können sich selbst in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns stellen.
Israel kann das nicht.
Israel existiert aufgrund uralter und immer wieder als zutreffend erkannter Definition im Zusammenhang mit einer Entscheidung Gottes.
Wenn aber dieser Gott sich jetzt scheinbar von Israel abwendet, dann entsteht ein Problem.
Dann kommt der Grund für die Existenz Israels abhanden.
Das beschreibt der Psalm auch so in Vers 13, wo der Autor fragt, warum Gott den Zaun seines Weinbergs eingerissen hat und den Weinberg damit wehrlos dem Rest der Welt ausgesetzt hat.
Gott ist also sozusagen der Feind seines eigenen, selbst geschaffenen Volkes geworden.
Erwählung als Problem
Erwählung wird somit zum Problem, denn man hat einen Vertrag mit Gott, aus dem man nicht rauskommt.
Man ist nicht nur deshalb im Vertrag gefangen, weil Gott Gott ist.
Sondern man würde im Falle einer Kündigung den Sinn der eigenen Existenz verlieren.
Die eigene Existenz definiert sich in diesem Falle über das, was Gott über mich (oder Israel) denkt, gedacht hat und was Gott alles getan hat, damit der jetzige Zustand eintritt.
Wobei man natürlich einen zweiten Sinn des Lebens im Kofferraum haben kann.
Allerdings ist es ziemlich schwierig, den Sinn der eigenen Existenz nach vielen Jahren grundlegend zu ändern.
Aber es ist nicht nur das:
Mit Gott hatte man eine generationsübergreifende, zeitübergreifende Identität. Man war Teil eines Jahrtausende währendes Prozesses, der zu einem guten Ende führen sollte und nicht irgendwo im Nirgendwo auslaufen würde.
Zudem war man Teil eines Prozesses, der im Begriff war, die ganze Welt zu umfassen. Nicht gleich heute, aber mehr und mehr.
Man könnte also sagen, dass man mit der Erwählung durch Gott den besten Sinn hatte, den ein Leben haben kann.
Wenn man Gott jetzt kündigen würde, verlöre man zum einen eine Hoffnung, zum anderen gewänne man nichts, was sich mit der Erwählung durch Gott vergleichen ließe.
Man würde auf jeden Fall verlieren.
Auch dann, wenn man im Moment von der Erwählung nichts hat. Sogar dann, wenn man seit Jahren von der Erwählung nichts hat.
Die einzige Möglichkeit, die Asaph in diesem Psalm darum sieht, ist dass Gott sich Israel wieder zuwendet und sich so verhält, dass die Erwählung sichtbar wird in Ergebnissen, in Lebensumständen.
Asaph sieht keine Alternative.
Übrigens auch nicht die, dass Gott Israel die Freiheit gibt und es ziehen lässt.
Das Problem mit der Erwählung durch Gott ist also, dass man von ihr nicht loskommt.
Gemeinde heute
Wenn wir heute das Problem haben, dass eine Gemeinde nicht funktioniert – wenn also der Eindruck entsteht, die Gemeinde ist dem Bösen in irgendeiner Form wehrlos ausgeliefert – dann stehen wir vor der gleichen Frage wie Asaph damals.
Natürlich muss man zuerst einmal klären, ob die Gemeinde umkehren muss, weil sie Dinge macht, die Gott nicht gefallen.
Aber möglicherweise kann die Gemeinde das gar nicht erkennen. Betriebsblindheit aufgrund von festgefahrenen Traditionen, Einstellungen und Meinungen ist nicht mit einfachen Mitteln heilbar.
Dann wäre es eben doch Gottes Aufgabe, die Gemeinde auf das hinzuweisen, was geändert werden muss.
(Ähnlich wie Jesus es in den Sendschreiben am Anfang der Offenbarung macht.)
Wenn die Gemeinde nun ein Sportverein wäre, dem die Mitglieder weglaufen, könnte sie den Sportverein einfach schließen.
Vielleicht ist die Zeit dieser Sportart einfach vorbei.
Der Sportverein könnte auch die Sportart wechseln.
Von Boule zu Wandern.
Es wäre egal, denn der Sportverein ist nur sich selber verantwortlich. Er ist aus dem Willen seiner Mitglieder heraus entstanden und kann darum von diesen Mitgliedern auch wieder aufgelöst werden.
Mit der Gemeinde ist das schwieriger.
Obwohl es natürlich einfacher ist als mit Israel im Alten Bund.
Denn Israel gab es nur in einfacher Ausführung, Gemeinden gibt es zehntausende.
Ist eine Gemeinde eine Gemeinde?
Trotzdem wird eine Gemeinde sich fragen müssen, ob sie als Gemeinde erwählt ist oder war.
Wobei es natürlich die Möglichkeit gibt, dass eine Gemeinde überhaupt nicht nach dem Willen Gottes entstanden ist, sondern aus der Spaltungsenergie einiger Eigenbrötler.
Es kommt durchaus vor, dass Gemeinden gegründet werden aus Neid oder Hochmut (wir sind bessere Gläubige als die anderen) oder Besserwisserei, und man kann in einem solchen Fall natürlich fragen, ob diese Gemeinde überhaupt in die Kategorie von Psalm 80 fällt.
Allerdings ist der Gründungsanlass einer Gemeinde kein alleiniges Kriterium. Denn die Mitglieder einer Gemeinde können wechseln oder ihre Meinung und ihre Haltung ändern. Das Kriterium dafür, ob eine Gemeinde den Kriterien von Psalm 80 entspricht, ist also, ob sie aktuell die Voraussetzung von Matthäus 18,20 erfüllt, dass sie nämlich „im Namen Jesu“ (nicht „wegen Jesus“!) zusammenkommt.
Wenn die Gemeinde eine Vollmacht von Jesus hat, seine Gemeinde zu sein, treffen die Aussagen und Konsequenzen von Psalm 80 auf sie zu. Ob sie diese Vollmacht schon bei ihrer Gründung hatte oder sich im Laufe der Jahre erworben hat, ist dabei unerheblich. Es zählt der Zustand in der Gegenwart.
Übrigens kennen wir aus den Sendschreiben in der Offenbarung durchaus Gemeinden, denen Jesus die Vollmacht, Gemeinde zu sein, entziehen will. Mit denen will er dann nichts mehr zu tun haben, die will er wegrücken von ihrem Platz in seiner Nähe.
Die Frage, ob eine Gemeinde überhaupt (noch) eine Gemeinde im Sinne der Bibel ist, ist also eine berechtigte Frage.
Die Unmöglichkeit der Schließung
Wenn eine Gemeinde die Vollmacht von Jesus hat, Gemeinde zu sein, dann kann sie nicht einfach den Betrieb einstellen.
Genauso wenig wie Israel sich den Nachbarvölkern anpassen konnte und einfach aufhören konnte, Gottes Volk zu sein.
Der Leib Christi kann nicht einfach sagen, er sei nicht mehr Leib Christi.
Damit ist die Gemeinde aber, wie Israel damals, vollständig auf Gott und sein Eingreifen zurückgeworfen.
Womit Erwählung dann, wenn die Gemeinde offenbar nicht gut läuft, zum Problem wird.
Denn den Verantwortlichen sind in gewisser Hinsicht die Hände gebunden.
Sie können nicht ihren eigenen Strategien folgen.
Sie können nicht sagen: „Die Zeit für solche Gemeinden wie die unsere ist vorbei.“
Wenn eine Gemeinde tatsächlich ein von Gott gepflanzter Weinstock ist, kann sie nicht einfach kündigen.
Gut, manch einer würde sagen: Das kann man schon aus Gründen des Glaubens nicht. Denn was ist das für ein Vertrauen in Gott, dass man den Bettel hinschmeißt, wenn die Sache nicht so funktioniert, wie man sich das vorstellt.
Es ist aber noch mehr als nur eine Frage des Glaubens, denn es ist die prinzipielle Frage nach der Beziehung von Gott zu seiner Gemeinde, nach Gottes Haltungen und nach den Haltungen der Gemeinde gegenüber Gott.
Ist Gott eigentlich treu? Auch dieser unserer Gemeinde gegenüber?
Sind wir treu? Auch wenn Gott nicht macht, was wir wollen? Wenn es schwierig ist oder mühsam?
Gelten die Versprechen Gottes noch, auch wenn die Gegenwart so aussieht, als ob es keine Zukunft mehr gäbe?
Asaphs Eingeständnis
Der Psalm sagt ganz klar: Der Einzige, der die Gemeinde wieder herstellen kann, ist Gott.
Der Psalm bekennt die Abhängigkeit einzig und allein von Gott.
Es funktioniert nicht mit Strategie, mit irgendwelchen Kraftanstrengungen oder grandioser Kreativität.
Diese Dinge können später mal dazukommen.
Aber solange Gott seinen Teil nicht tut, sind alle anderen Bemühungen für die Katz.
Und vielleicht ist es genau das, was Gott erreichen wollte:
Dass man einsieht, dass man von Gott abhängig ist, mehr als von allem anderen.
Die Erkenntnis, dass Gott das A und O ist, der Mittelpunkt von allem, das einzige Licht der Welt und das einzige Brot des Lebens.
Wobei wir dann wieder bei Jesus sind, der meinte, man müsse sein Leben verlieren, um es zu gewinnen.
Vielleicht ist das auch die Befreiung, die Gott bringen wollte:
Dass die Verantwortung bei Gott liegt, nicht bei uns selbst.
Wir bauen das Reich nicht.
Wir können den Bau zwar verhindern.
Aber das Gedeihen des Weinstocks oder des Weinberges liegt nicht in unseren Möglichkeiten.
Bleibt also nur, Gott wieder zur Nummer 1 zu machen.
Das ist letztlich der Preis, den man für die Erwählung bezahlen muss.
Denn Gott hat durch seine Erwählung uns selbst zu seiner Nummer 1 gemacht.
Also dranbleiben.
Es gibt keine Alternative.