Psalm 72 – warum er geschrieben wurde

Man fragt es sich ja bei einer Reihe von biblischen Texten, warum sich irgendwer die Mühe gemacht hat, sie zu schreiben.

Weil völlig unklar ist, was man mit diesem Text soll.

Wer ist Zielgruppe von sowas?

Mit dem Psalm 72 haben wir einen ähnlichen Text wie in der Offenbarung des Johannes: Es werden Dinge beschrieben, die völlig unrealistisch sind:

·         Das Getreide wächst üppig bis zum Gipfel der Berge – dabei ist man normalerweise schon froh, wenn da oben überhaupt etwas wächst (Vers 16)

·         Die Elenden, die Armen und die Unterdrückten werden gerettet und gesegnet, und jede Unterdrückung hört auf. Keine Ahnung, wo Sie Ihre Nachrichten über die Weltlage her beziehen, aber davon sind wir ja wohl so weit entfernt wie eh und je.

·         Und dass Gott (oder sein König) über die ganze Welt herrscht, und dass die heidnischen Herrschaftssysteme wie Putin, Samsung, Microsoft oder FIFA Gott Tribut zahlen oder Geschenke bringen, ist ebenfalls illusorisch.

Was also soll man mit so einem Text?

Wozu soll man das lesen? Das klingt ja eher wie Märchenbuch.

Die Zielgruppe

Schon allein deshalb, weil dieser Text in der Bibel steht, ist klar, dass die Zielgruppe nur Leute sein können, die auch die Bibel lesen. Die Botschaft geht an Gläubige, nicht an Ungläubige.

1 Von Salomo. Gott, gib dem König deine Rechtssprüche und deine Gerechtigkeit dem Königssohn,

2 dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach Recht.

Der göttliche König wird erstmal gar nicht die Welt richten, sondern nur Gottes Volk. Wenn die Ungläubigen auf Gerechtigkeit hoffen, dann müssen sie diese Gerechtigkeit selber erzeugen.

Die göttliche Gerechtigkeit, und damit die absolute, vollkommene Gerechtigkeit wird hier für den Herrscher über Gottes Volk erbeten.

Die anderen müssen sehen, wo sie bleiben.

Wobei es ja immer die Frage ist, wieviel Gerechtigkeit die Menschen überhaupt haben wollen. Weil die Gerechtigkeit für mich selbst ja auch Gerechtigkeit für den anderen hieße.

„Gerechtigkeit“ ist also nicht unbedingt eine Verheißung. Das sehen wir in den Forderungen Jesu, dass man den Feind lieben und den Bösewichten vergeben soll. Dass man großzügig geben soll und die Frau eines anderen in Ruhe lassen soll.

Wenn Sie also hier mit selbstgerechter Wonne von der Gerechtigkeit lesen, dann bedenken Sie bitte, dass das immer auch die Gerechtigkeit für die anderen ist.

Heilberge, nicht Weinberge

 3 Es mögen dem Volk Heil tragen die Berge und die Hügel Gerechtigkeit.

Ein sparsames Heil ist nicht vorgesehen, und an eine teilweise Gerechtigkeit ist nicht gedacht. Überall wo Platz ist, und wo man es auch sieht, werden Heil und Gerechtigkeit wuchern. Das ist ziemlich gründlich und einigermaßen umfassend. Da ist nicht viel Platz für Unheil oder Ungerechtigkeit. Das ist sozusagen ein göttliches Maß an Heil und Gerechtigkeit.

Und wenn Sie mal in Betracht ziehen, dass die Nachrichten randvoll sind mit Unheil und Ungerechtigkeit, dann mag Ihnen der Unterschied auffallen.

Und wenn Sie aufgrund dieser Tatsache bedenken, wie schwer für manche Menschen das Leben ist (egal, ob subjektiv oder objektiv), dann finden Sie hier schon angekündigt, was Jesus später sagt: Mt 11,29-30

29 Nehmt auf euch mein Joch, und lernt von mir! Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und »ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen«; 

30 denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

Der Elende, aber der andere

Wenn im Folgenden den Kindern des Armen Hilfe gebracht wird und nicht dem Armen selbst, so soll damit die Spirale der Armut unterbrochen werden. Denn normalerweise haben die Kinder der Armen keine Chance und werden halt wieder Arme. Es geht hier um eine grundlegende Beseitigung von Bedürftigkeit.

 4 Er schaffe Recht den Elenden des Volkes; bringe Hilfe den Kindern des Armen, und den Unterdrücker zertrete er.

Das dürfen Sie nun wieder nicht mit dem verwechseln, was Sie in der Tagesschau sehen. Elend und Unterdrückung manifestiert sich im Reich Gottes nicht in Geld und teuren Autos. Die Christen werden nicht von Großgrundbesitzern unterdrückt, sondern vom Teufel. Und das große Elend der Gläubigen ist die Sünde oder die Unfähigkeit, das zu leben, was Gott für die Gläubigen vorgesehen hat.

Dass die Gläubigen ein Recht haben gegen den Teufel, dafür ist Jesus gekommen.

Der Kreislauf von Sünde, die zu Sünde führt, muss unterbrochen werden. Darum wird seit Jesus auf Hass mit Liebe reagiert, auf Untat mit Vergebung, auf Zwang mit Freiwilligkeit.

Das ganze Elend muss von der Wurzel her besiegt werden, und der Unterdrücker darf keinen Stich mehr bekommen.

Aber es geht eben nicht um irgendwelche Menschen irgendwo auf der Welt. Sondern es geht um diejenigen, die eindeutig und unwiderlegbar zu Gott gehören.

Die Dauer

Da uns nicht geholfen ist, wenn die Befreiung vom Unterdrücker nur vorübergehend ist, darum geht der Psalm so weiter:

 5 Und er möge lange leben, solange die Sonne <scheint>, solange der Mond <leuchtet>, von Generation zu Generation.

Das Restaurant gegenüber hat Mittwochs Ruhetag. Jesus hat keinen Ruhetag, und auch wenn Gott am 7. Tag ruhte, heißt das nicht, dass die Verheißungen der Bibel nur zeitweise gelten. Es wäre uns nicht geholfen, wenn die Macht Gottes nur zu bestimmten Öffnungszeiten zur Verfügung stände, welche wir vielleicht noch nicht einmal kennen würden.

Wenn Gott also die Erlösung durch seinen großen König (= Jesus) schickt, dann ist das nicht rückgängig zu machen. Das ist für ewig plus 3 Tage. Da kann man sich drauf verlassen. Da muss man sich nicht irgendwann umorientieren.

Der Sparkäfer

Damals, als die Welt noch in Ordnung war, gab es den Sparkäfer. Das war ein VW-Käfer, der fuhr. Und sonst nichts. Kein Luxus, keine zusätzlichen Features, keine Extras. So billig wie möglich. Nur 30 PS, nur 120 km/h schnell. Kein Chrom. Wenige langweilige Farben.

Genauso stellen viele Christen sich Jesus vor (von den Ungläubigen ganz zu schweigen). Sorgt für das Notwendige, hat einen kargen Segen, aber keinen Überfluss, keinen Luxus; strenge Regeln, enge Grenzen. Rettet mich vor der Hölle, aber nur, wenn ich gehorsam bin. Und mehr ist nicht.

Nun ja, der Psalm kennt das anders:

 6 Er komme herab wie ein Regen auf die gemähte Flur, wie Regenschauer als Befeuchtung auf das Land.

 7 In seinen Tagen wird der Gerechte blühen, und Fülle von Heil <wird sein>, bis der Mond nicht mehr ist.

Der Gerechte wird nicht nur leben und ein paar grüne Blätter produzieren. Er wird blühen.

Und es wird nicht Heil vorhanden sein. Sondern es wird soviel Heil vorhanden sein, dass mehr gar nicht geht. Die Fülle ist nun mal nicht steigerbar. Mehr als alles geht nicht.

Natürlich können Sie jetzt auf Ihr Leben schauen oder auf den Zustand der Welt und können beklagen, dass von der Fülle des Heils ja nun nicht viel zu sehen ist.

Aber das ist eben immer das Problem mit Gott und mit Jesus: Das steht und fällt alles mit dem Glauben.

Wenn Sie an die Fülle des Heils nicht glauben, wird sie sich in Ihrem Leben auch nicht verwirklichen. Was Sie nicht glauben, werden Sie nicht sehen.

Und wenn Sie meinen, es gäbe nichts zu sehen, dann verwechseln Sie vielleicht „Heil“ mit Wohlergehen. Werfen Sie in diesem Fall einfach einen Blick auf das Leben des Paulus: Der kam der Fülle des Heils relativ nahe, kannte aber jede Menge Momente, wo es mit der Fülle des Wohlergehens nicht so recht klappte. Es ist nun mal ein Unterschied zwischen „Reich Gottes“ und „Schlaraffenland“.

Der Untergang der Finsternis

Wenn der Psalm Ihnen bisher schon seltsam vorkam, dann wird es jetzt nicht besser.

Und was Sie wissen sollten: Die Bewohner der Wüste sind die Beduinen, die sich normalerweise keinem Staat und keinem König unterordnen und in der Wüste ein freies und unabhängiges Leben führen.

Und Tarsis, Scheba und Saba waren die entferntesten Orte, welche der normale Mensch damals kannte. (Es mag Fachleute gegeben haben, die schon einmal von Indien gehört hatten. Aber der Psalm richtet sich an die durchschnittliche Bevölkerung.) Das sind sozusagen die Enden der Erde.

8 Und er möge herrschen von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde.

9 Vor ihm sollen sich beugen die Bewohner der Wüste, und seine Feinde sollen den Staub lecken.

10 Die Könige von Tarsis und den Inseln sollen Geschenke bringen, es sollen Tribute entrichten die Könige von Scheba und Saba.

11 Und alle Könige sollen vor ihm niederfallen, alle Nationen ihm dienen.

Möglicherweise haben Sie gemerkt, dass die Feinde in Vers 9 nicht etwa freiwillig die Seiten wechseln. Die sollen Staub lecken. Das ist kein Ausdruck für einen freiwilligen Sinneswandel.

Auch Tribut wie in Vers 10 zahlt man nicht freiwillig. Das ist eine Zwangsabgabe.

Es ist also keineswegs so, dass diese Leute nun alle Fans des neuen Königs geworden sind.

Sondern die sind besiegt. Unterworfen. Die haben verloren.

Dumm nur, dass wir von keinem Krieg hören. Kein Kampf, kein Feldzug, keine Schlachten.

Erinnert ein wenig an die Schlacht bei Harmagedon (Offenbarung 16,16), die groß angekündigt wird, dann aber nie stattfindet, weil die Feinde schon verloren haben, bevor es überhaupt los geht.

Auf jeden Fall: Der neue König ist der einzige verbleibende Herrscher. Er hat die Welt im Griff; es ist seine. Er hat als Herrscher keine Konkurrenz.

Die Begründung

Nun kommt die Begründung, warum der ideale König gesiegt hat.

Er hat nicht gesiegt, weil er die größeren Bomben hatte oder die besser ausgerüsteten Armeen.

Sondern weil das Stärkste auf der Welt die Liebe ist. Verkörpert durch Barmherzigkeit, Güte und all dieses Zeug.

Das Licht ist stärker als die Finsternis: In der Schöpfungsgeschichte genauso wie in Jh 1,5.

12 Denn retten wird er den Armen, der um Hilfe ruft, und den Elenden und den, der keinen Helfer hat.

13 Er wird sich erbarmen des Geringen und des Armen, und das Leben der Armen wird er retten.

14 Aus Bedrückung und Gewalttat wird er ihr Leben erlösen, denn ihr Blut ist kostbar in seinen Augen.

Vielleicht können Sie erkennen, wie sehr Sie in den Psalmen „Wort Gottes“ vor sich haben. Auf die Idee, dass die Liebe gewinnt und im Endeffekt stärker ist als alles andere, würde vermutlich kein Mensch kommen. Ebensowenig wie man auf die Kreuzigung des Gottessohnes als Methode zur Erlösung von dem Bösen käme, welches gerade den Gottessohn getötet hat.

Es wäre kein Mensch darauf gekommen (und hat deshalb auch kein Mensch die Kreuzigung Jesu während des Vorgangs verstanden), weil man den Sieg des Guten oder des Lichts in der Weltgeschichte nicht sehen kann. Wenn man die Welt betrachtet, gewinnt irgendwie immer die Gewalt und das Unrecht. Gottes Methode ist für Ungläubige völlig unsichtbar und für Gläubige auch oft genug ein Rätsel. Dass das Licht stärker ist als die Finsternis, ist aber trotzdem wahr.

Nochmal: der Elende

Und beachten Sie noch einmal: Der Arme und der Elende sind hier keine sozial Schwachen, denen es an Geld und Einfluss mangelt. Der Autor des Psalms konnte diese Personengruppe natürlich nicht anders verstehen, weil er einen irdischen König mit einem irdischen Reich beschrieb. Wir wissen aber mittlerweile, dass es sich um einen übernatürlichen König handelt, und damit ist natürlich auch der Elende nicht mehr als der irdisch Elende zu verstehen, sondern als der „geistlich“ Elende. Also der, der von einer geistlichen Macht unterdrückt wird.

Und von hier ist die Seligpreisung für die „Armen im Geist“ zu verstehen (Mt 5,3). Wer bisher von einer übernatürlichen Macht unterdrückt und ausgebeutet wurde, wird mit Jesus aus dieser Lage erlöst.

Letzte Charakterisierung

Die abschließenden Charakterisierungen des idealen Königs erscheinen uns ein wenig unsortiert zu sein. Allerdings muss man bedenken, dass hier keine Dokumentation und kein Wikipedia-Artikel geschrieben wurde, sondern ein Gedicht. Lyrik eben. Auch die Texte von Popsongs und Schlagern der heutigen Zeit sind nicht immer von gradliniger und logischer Ordnung gekennzeichnet. Yellow submarin; 99 Luftballons …

15 Und er soll leben, und von dem Golde Schebas wird man ihm geben; und man soll beständig für ihn beten, den ganzen Tag ihn segnen.

„Leben“ ist eine Charaktereigenschaft des neuen Königs, so auch in Vers 17. Die Eigenschaften eines normalen Menschen ist allerhöchstens vorübergehendes Leben; Vergänglichkeit.

Der König wird reich sein. Und er kann auf die Reichtümer der Ungläubigen zurückgreifen – wir kennen das heute, dass Gott die Werke und Besitztümer des Teufels zu seinem eigenen Vorteil (oder zum Vorteil seiner Gläubigen) verwenden kann.

Alle werden für diesen König sein. Der wird Leute haben, die für ihn beten. Mag sich jetzt ein bisschen komisch anhören, für Gott zu beten. Haben Sie aber mit „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“ längst getan. Es gibt eine Zusammenarbeit zwischen Gott und Menschen zum Wohle des Gottesreiches.

Charakterisierung durch Ergebnis

Zweifellos haben Sie bei Ihrer letzten Bergwanderung gesehen, was für einen üppigen Bewuchs es auf der Zugspitze, dem Feldberg, dem Brocken oder am Jungfraujoch gibt. Wo es doch genau das Problem in Israel war, dass die fruchtbaren Ebenen lange Zeit von den Philistern und ihren Verbündeten besetzt waren und die Israeliten auf den Bergen wohnen mussten, wo nichts wächst.

Nun, jetzt wächst da was: 

 16 Überfluss an Getreide soll im Land sein; auf dem Gipfel der Berge soll es wogen; wie der Libanon sei seine Frucht; sie sollen hervorblühen aus der Stadt wie das Kraut der Erde.

Was da aus der Stadt hervorblüht, sind Menschen.

Das mag für uns in Zeiten der Überbevölkerung keine tolle Verheißung sein, aber zu Zeiten hoher Kindersterblichkeit und niedriger Lebenserwartung war das eine bedeutende Veränderung.

Dass es für die Gläubigen keinen Mangel geben sollte, haben Sie ausführlich in der Bergpredigt, aber auch bei der Speisung der 5000 und 4000, bei der Verwandlung von Wasser zu Wein und ähnlichen Zeichen Jesu.

Abraham mal wieder

Jetzt wird die Verheißung an Abraham nochmal aufgegriffen, dass in ihm alle Nationen der Erde gesegnet sein sollen:

 17 Sein Name soll ewig sein; vor der Sonne soll aufsprossen sein Name; und in ihm wird man sich segnen; alle Nationen sollen ihn glücklich preisen.

Damit sind wir mit dem idealen König durch.

Schlusswort des Psalmbuches

Die letzten Verse sind sowohl Schlusswort des zweiten Psalmbuches als auch dieses speziellen Psalms.

 18 Gepriesen sei Gott, der HERR, der Gott Israels. Er tut Wunder, er allein!

Denn wenn wir so einen König bekämen, dann wäre es ein Wunder. Und da wir ihn schon haben, können wir ja sehen, was für ein Wunder das war und ist.

 19 Und gepriesen sei sein herrlicher Name in Ewigkeit! Seine Herrlichkeit erfülle die ganze Erde! Amen, ja Amen.

 20 Es sind zu Ende die Gebete Davids, des Sohnes Isais.

Sachlich ist das natürlich falsch. Erstens war dieser Psalm gar nicht von David, auch Psalm 50 ist von jemand anderem. Und Psalm 86 ist dann wieder von David, Psalm 101 auch.

Aber inhaltlich ist es richtig.

Nach diesem Psalm gibt es für David nichts mehr zu sagen. Alles, was David erhoffen und erträumen konnte, ist mit diesem Psalm und seiner Erfüllung geschehen und erledigt.

Größer kann man über das Gottesreich und über den Willen Gottes nicht schreiben.

Und warum nun?

Dieser Artikel wurde eingeleitet mit der Frage, warum dieser Psalm geschrieben wurde.

Warum sollten Sie ihn lesen?

Weil in diesem Psalm alles das drinsteht, was Sie längst haben.

Dieser Psalm ist eine Checkliste zur Überprüfung Ihrer aktuellen Lebensumstände.

Und vor allem: Zur Überprüfung Ihrer Lebenshaltung angesichts der aktuellen Umstände.

Sind Sie befreit von der Macht des Satans?

Haben Sie die Fülle?

Sind Sie gesegnet? Oder sind Sie den ganzen Tag am Jammern?

Ist die Finsternis besiegt, oder macht die sich in Ihrem Leben noch breit?

Dieser Psalm soll Ihren Realismus stärken, nicht Ihre Utopien.