Psalm 88 – schrecklich schrecklich
Falls Sie in diesem Artikel gelandet sind, weil sie den Psalm 88 gelesen haben und nun auch nicht weiter wissen – ja, er ist wirklich der traurigste Psalm von allen.
Zumindest äußerlich.
Während alle anderen klagenden Psalmen am Ende irgendwie zu einer Hoffnung oder zu einer Lösung kommen, hört dieser mit dem Wort „Finsternis“ auf, und das Ende ist einfach das Anhalten einer endlos sich drehenden Schallplatte. Würde man sie weiterdrehen lassen, würde der Text sich einfach immer weiter wiederholen.
Es stellen sich also zwei Fragen:
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Warum schreibt jemand so einen Text als liturgischen Text für den Gottesdienst? (Das geht aus dem ersten Vers hervor, dass dieses ein extra für den Gottesdienst verfasster Text ist. Dies ist kein Tagebucheintrag eines Leidenden.)
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Warum haben diejenigen, die die Sammlung des Psalmen zusammengestellt haben, diesen Psalm mit hinein genommen? Gab es da nichts Besseres?
Datenbank des Elends
Betrachten wir also mal die Sammlung des beschriebenen Elends:
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Er hat keine Kraft mehr (V.5)
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Seine Seele ist satt vom Leiden, also restlos damit angefüllt (V.5)
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Die Verwaltung führt ihn bereits als Sterbenden (V.5)
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Er fühlt sich wie ein im Krieg oder durch Kriminelle Erschlagener im Grab (V.6)
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Gott hat ihn so tief nach unten in die Grube oder die Finsternis gelegt, dass es tiefer nicht mehr geht (V.7)
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Seine Bekannten wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er ist sowohl allein als auch einsam (V.9)
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Gott verbirgt sich vor dem Autor, hat den Autor offenbar abgehakt (V.15)
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Er ist elend und krank von Jugend auf. Das klingt wie schwere Kinderlähmung, will aber vermutlich vor allem auf die lange Dauer des Furchtbaren hinweisen und dass der Autor eigentlich nichts anderes als diesen Zustand kennt. (V.16).
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Gottes Schrecknisse haben den Autor vernichtet (V.17).
Man hat das Gefühl: Dieser Autor hat alles. Jede Krankheit, jede Not, jedes Problem.
Und genauso ist es gedacht.
Denn dieses ist Literatur.
Und der Autor hat eine Person erfunden, und diese Person wurde nun von den schlechtesten denkbaren Umständen getroffen.
Alles Schlechteste von allem Schlechtesten wird jetzt dieser fiktiven Person zugeschrieben.
Alle Krankheiten der Welt gleichzeitig, und alle Nöte noch dazu.
Nichts konkretes
Dass es nicht um ein spezielles Ereignis oder den Zustand zu einem bestimmten Datum geht, erkennt man daran, dass überhaupt keine Einzelheiten und keine genaueren Beschreibungen der Umstände haben. Das Elend ist riesig, aber durch welche äußeren Umstände es verursacht wurde, wird nicht erwähnt.
Es geht dem Autor um das schlimmstmögliche Szenario, wobei es ihm egal ist, wodurch es verursacht wurde.
Der Gipfel der Schlimmigkeit
Um nun die Entsetzlichkeiten wirklich auf den Gipfel zu treiben, macht der Autor jetzt Gott zum Feind der fiktiven Person. Ein Großteil des Elends geht von Gott aus. Gott ist der Verantwortliche für den fürchterlichen Zustand der Person.
Es kommen in diesem Psalm keine Krankheiten vor, die man einfach so bekommt. Auch keine Behinderungen. Kein Aussatz und keine Cholera. Es werden zwar Auswirkungen beschrieben, die auch Auswirkungen aller möglicher Krankheiten sein können, aber als Urheber wird immer Gott genannt.
Es kommen in diesem Psalm auch keine Feinde vor, die die fiktive Person irgendwie bedrohen. Keine ausländischen Könige und keine inländischen Neider. Auch nicht der Teufel in irgendeiner Gestalt. Der einzige Feind, der hier vorkommt, ist Gott. Der aber gründlich.
Und das ist natürlich das Schlimmste vom Schlimmen, wenn man Gott zum Feind hat.
Wobei dieser Psalm ja eine subjektive Sicht wiedergibt, keine objektive. Wir können nur in sehr geringem Ausmaß objektive Aussagen über Gott machen. Weil Gott wissenschaftlich nicht zu erfassen ist. Das meiste, was wir mit Sicherheit von Gott wissen, stammt aus Erfahrung. (Nein, nicht aus der Bibel. Die Bibel ist, was Gott angeht, ziemlich widersprüchlich. Darum gibt es so viele verschiedene Kirchen und Sekten, und darum gibt es so weit auseinander driftendes Bibelverständnis.)
Ob Gott also objektiv tatsächlich der Feind der fiktiven Person ist, können wir nicht sagen. Aber die Person erlebt das so und beschreibt das so. Und damit ist das jetzt erst einmal Wahrheit, und wir müssen das so nehmen, wie es dasteht.
Wie auch immer: Der Autor hat sich bemüht, die fiktive Person in die allerschlimmsten Umstände zu verfrachten, die für einen Menschen überhaupt vorstellbar sind.
Keine Sünde
Nur nebenbei erwähnt: Die fiktive Person erleidet hier keine Strafe für irgendwelche Sünden. Es wird zwar der Zorn Gottes hier erwähnt, aber der ist unspezifisch. Es geht nicht darum, dass die fiktive Person ein schlechterer Mensch ist als andere. Wenn hier Gottes Zorn mitspielt, so ist das so zu verstehen, wie Jeremia während der Belagerung von Jerusalem auch unter den Folgen der Belagerung und damit unter dem Zorn Gottes litt, obwohl er selbst ja unschuldig war.
Und damit ist das Leiden der fiktiven Person natürlich noch schlimmer: Es gibt keine Erklärung. Man kann sich nicht damit trösten, dass man selber schuld sei. Das ganze ist, was die fiktive Person angeht, grundlos.
Keine Hoffnung
Die Sache wird dadurch noch schlimmer – der Autor hat sich wirklich Mühe gegeben mit den extremen Entsetzlichkeiten – dass keine Hoffnung da ist.
Der Psalm endet nicht damit, dass der Sprechende das Licht am Horizont sieht.
Es ist keine Rettung in Aussicht, es gibt keine Zusage von Gott auf Besserung. Es ist kein Happy End in Sicht, und die fiktive Person hat keinen Glauben daran, dass Gott an ihrem Zustand etwas ändern wird.
Keine Hoffnung darauf, dass Gott sich der fiktiven Person wieder zuwenden wird. Die Zukunft bleibt wie die Gegenwart.
Und Hoffnungslosigkeit ist nun wirklich das übelste Übel, wenn man ohnehin in katastrophalen Situationen steckt.
Die Aussage
Der Autor beginnt den Psalm mit der Anrede „Gott meiner Rettung“ oder in älteren Bibel „Gott meines Heils“. Dabei wäre „Gott meines Unheils“ sicher passender gewesen.
Nach all dem, was der fiktiven Person widerfahren ist, redet sie immer noch mit Gott.
Und beabsichtigt auch nicht, damit aufzuhören.
Gott ist immer noch „mein Gott“.
Gott kann machen, was er will. Die Person wird sich nicht von Gott trennen.
Es mag schon sein, dass Gott gerade nicht „treu“ erscheint. Die Person ist Gott aber treu.
Normalerweise würde man sagen: Wenn das mit Gott so wenig bringt – ja, wenn es sogar alles schlimmer macht, weil ich nun auch noch Gott zum Feind habe – dann gibt man die Sache mit Gott doch auf. Man hat ja nichts davon.
Macht diese Person aber nicht.
Sie erklärt Gott für alternativlos.
Gott ist auch dann Gott, wenn er nicht macht, was ich will.
Die Person stellt Gott keine Bedingungen: Entweder macht Du, was ich mir so vorstelle, oder ich bete dich nicht mehr an.
Gott ist sozusagen eine absolute Größe, keine relative. Gott wird nicht dadurch anbetungswürdig, weil er eine bestimmte Stellung mir gegenüber einnimmt.
Und Gott ist nicht nur theoretisch anerkannt, dass man also davon ausgeht, dass es Gott selbstverständlich immer noch gibt, selbst wenn er offenbar gegen mich handelt.
Nein, Gott ist immer noch Gesprächspartner. Den ganzen Psalm hindurch wird Gott angesprochen; die Person argumentiert auch mit Gott, ob das, was er da macht, eigentlich sinnvoll ist.
Gott wird nach wie vor als lebendiges Gegenüber angesehen, und Gott kommt in jedem Vers außer in 4 und 5 vor. Der Psalm dreht sich also um Gott, nicht um die Person.
Der Autor wendet sich auch nicht ab und sagt zu Gott „Mach doch was du willst!“ Er ergibt sich nicht in sein Leid, sondern argumentiert immer noch dagegen an.
Nein, dieser Psalm ist ein massives Bekenntnis zu Gott.
Zu Gott, weil er eben Gott ist.
Die Person gehört nicht zu Gott, weil sie einen Zweck erreichen will. (Weil ich dann in den Himmel komme.) Die Person gehört zu Gott, weil es in jeder Hinsicht richtig ist.
Sich zu Gott zu bekennen, weil man so großartig gesegnet wurde, das kann jeder.
Aber zu erkennen, dass Gott auch dann anbetungswürdig ist, wenn er überhaupt nicht segnet, das ist wahre menschliche Größe.
Es ist eine Leistung, nicht mein Wohlergehen als Maßstab für Gottes Anbetungswürdigkeit zu sehen. Zu wissen, dass Gott größer ist als meine Befindlichkeiten, und dass Gottes Gedanken größer sind als meine und dass Gottes Logik objektiver ist als meine Logik.
Und so ist dieser Psalm ein ganz ungeheures Bekenntnis zu Gott.
Manchmal reden wir von bedingungsloser Liebe.
So etwas ist das hier.
Nur in die andere Richtung, als wie wir es gewöhnt sind.
P.S.: Die zwei Autoren
Wenn sie den ersten Vers des Psalms ordentlich gelesen haben, dann werden sie gemerkt haben, dass der Psalm scheinbar von zwei verschiedenen Autoren geschrieben wurde: Zum einen von den Söhnen Korach, die man kennt, weil sie insgesamt für 12 Psalmen verantwortlich zeichnen; zum anderen von Heman, der aus einem völlig anderen Stamm stammte.
Möglicherweise wissen Sie auch, dass es von einer Reihe von Bibeltexten zwei Versionen gibt. Nicht, weil man unbedingt Widersprüche in die Bibel einbauen wollte. Sondern weil man für wichtige Dinge zwei Zeugen brauchte. Darum gibt es zwei Schöpfungsberichte, zwei Versionen der Geschichte der Sintflut, zwei Beschreibungen der Stiftshütte und mit dem Buch Deuteronomium ein zweites Mal das Gesetz.
Diese zwei Zeugen für die eine Sache wollen sagen: Es stimmt (ist also wahr), und es ist so wichtig, dass wir es offiziell bezeugen lassen.
Sie hätten also schon beim Lesen der Einleitung dieses Verses erkennen sollen: Der Psalm ist wichtig und wahr und mit entsprechender Gründlichkeit und Hingabe zu lesen.