Psalm 55 – wenn die Gemeinde im Eimer ist

Ich hätte ja eine Dokumentation geschrieben.

Schön die Fakten zusammengestellt, die Konsequenzen beschrieben, die Forderungen gegenübergestellt und am Ende ein Resümee gezogen. Und hinterher hätte der Leser oder Zuhörer sich aufregen dürfen, weil das Resümee so katastrophal ausgefallen ist. Oder der Leser hätte sich nicht aufgeregt, weil er gesagt hätte: Ist ja alles nicht so schlimm.

Der Autor von Psalm 55 macht es anders herum: Er regt sich furchtbar auf. Er schreibt hochemotionale Lyrik. Er beschreibt den Zustand des Reiches Gottes wie die Reportage eines Fußballspiels, bei dem die Heimmannschaft haushoch und unglücklich verliert.

Wer Sachtexte bevorzugt, ist in diesem Psalm falsch. Dieser Psalm hat den Stil eines Sportreporters. Auch wenn drüber steht, der Text sei ein Lehrgedicht, also ein Maskil. Lehrgedichte klingen in anderen Kulturen eben anders, als sie bei uns klingen würden. Psalm 55,1 (ELB 2006)

1Dem Chorleiter. Mit Saitenspiel. Ein Maskil. Von David

Und weil es ein Lehrgedicht ist, darum geht es in diesem Psalm auch nicht um einen Einzelfall.

Es wird ja auch kein Einzelfall erwähnt.

Es geht um ein immerwährendes Prinzip. Um ein ewiges Problem.

Darum hat das Gedicht es auch bis in die Psalmen geschafft, und darum kann ich heute einen aktuellen Artikel darüber schreiben. Weil das Problem nach wie vor aktuell ist.

Die Größe des Elends

Der Text beginnt dann damit, dass ein leidender Mann seine Männergrippe beschreibt.

Oder wie mein Vater sich geäußert hat, wenn er etwas essen sollte, wo Knoblauch drin war: Psalm 55,2–6

2Nimm zu Ohren, Gott, mein Gebet, und verbirg dich nicht vor meinem Flehen!

3Horche auf mich und antworte mir! Ich irre umher in meiner Klage und muss stöhnen

4vor der Stimme des Feindes, vor der Bedrückung des Gottlosen; denn sie wälzen Unheil auf mich, und im Zorn feinden sie mich an.

5Mein Herz bebte in meinem Innern, und Todesschrecken haben mich befallen.

6Furcht und Zittern kamen mich an, und Schauder bedeckte mich.

Damit sind wir nun darauf vorbereitet, dass etwas Furchtbares zu erwarten ist. Man mag gar nicht weiterlesen, denn vermutlich kommt es etwas über Atombombe oder Krieg im Gazastreifen, über Hungersnöte oder Konzentrationslager.

Nichts wie weg

Aber nein: Erstmal steigert der Autor die Beschreibung noch. Wer dachte, es kann nicht schlimmer kommen, hat sich getäuscht: Psalm 55,7–9

7Und ich sprach: Hätte ich doch Flügel wie die Taube, ich wollte hinfliegen und ruhen.

8Siehe, weithin entflöhe ich, würde nächtigen in der Wüste.

9Ich wollte eilen, dass ich Zuflucht hätte vor dem heftigen Wind, vor dem Sturm.

Diese Flucht ist insofern schlecht, als der Autor im Reich Gottes wohnt. Wie wir im Weiteren sehen werden, sogar zentral im Reich Gottes, nämlich in Jerusalem. Die Lage ist so schlimm, dass der Autor lieber weit weg von Gott und von Gottes Präsenz sein will als das zu ertragen, was sich da gerade abspielt.

Das, was hier geschieht, ist erklärtermaßen unerträglich.

Babylon in Jerusalem

Nach soviel Schrecken verbreitender Vorrede kommt nun der erste Teil der Beschreibung des Schreckens.

Wenn das, was jetzt kommt, eine Beschreibung der Zustände in Johannesburg sein sollte, dann würde man sich damit abfinden. Dort ist es halt so. Ebenso in einigen Stadtbezirken amerikanischer Städte oder in bestimmten Diktaturen.

Hier wird aber die heilige Stadt beschrieben.

Der Mittelpunkt des Reiches Gottes.

Das Zentrum des gelobten Landes – aus Ägypten ist man geflohen, und jetzt hat man dieses: Psalm 55,10–12

10Verwirre, Herr, spalte ihre Zunge! – denn Gewalttat und Streit habe ich in der Stadt gesehen.

11Tag und Nacht machen sie die Runde um sie auf ihren Mauern; und Unheil und Mühsal sind in ihrer Mitte.

12Verderben ist in ihrer Mitte, und Bedrückung und Betrug weichen nicht von ihrem Marktplatz.

Dass Gott die Sprache der Leute verwirren soll, bedeutet, dass wir hier zum zweiten Mal den Turmbau zu Babel haben. Oder etwas vergleichbar schlimmes.

Und, wie schon gesagt: Dafür sind wir nicht aus Ägypten geflohen, dass wir im gelobten Land jetzt das Gleiche haben.

In Johannesburg oder Chicago mag man solche Zustände hinnehmen.

Aber in Gottes Gemeinde ist so etwas unakzeptabel.

Man braucht auch keine Gemeinde mehr, wenn es dort genauso zugeht wie in Putins Russland.

Das Normale

Man kann es auch freundlicher und liberaler ausdrücken: Die Gemeinde ist normal geworden.

Das, was überall üblich ist, ist auch in der Gemeinde üblich.

Die Gemeinde ist vom Rest der Welt nur noch durch ein Schild an der Tür zu unterscheiden.

  • Wenn Gemeinheit und Lüge in die Welt einzieht, zieht sie auch in die Gemeinde ein.

  • Wenn Umweltschutz und Bewahrung der Schöpfung in die Welt einzieht, ziehen sie auch in die Gemeinde ein.

  • Wenn völkisches Denken oder eine gewisse Fremdenfeindlichkeit in die Welt einziehen, ziehen sie auch in die Gemeinde ein.

  • Wenn Duckmäusertum in die Gesellschaft einzieht, zieht es auch in der Gemeinde ein.

Die Gemeinde ist nichts Besonderes mehr. Sie hebt sich nicht mehr ab. Es ist wieder alles so wie in Ägypten, nur dass man eine religiöse Liturgie drumrum baut und die ägyptischen Verhältnisse jetzt mit dem Wort Gottes begründen kann.

Der Segen der Gemeinschaft

Nun bin ich in der Gemeinde ja glücklicherweise nicht allein. Da sind ja noch andere Gläubige, mit denen man sich zusammen schließen kann.

Leute, die die gleichen Ziele haben wie ich.

Menschen, die den gleichen Gott verehren wie ich.

Personen, die den gleichen göttlichen Regeln gehorchen und auf die ich mich deshalb verlassen kann.

Folglich hören wir jetzt, warum der Autor so besonders krass und laut schreit: Psalm 55,13–15 

13Denn nicht ein Feind höhnt mich, sonst würde ich es ertragen; nicht mein Hasser hat großgetan gegen mich, sonst würde ich mich vor ihm verbergen;

14sondern du, ein Mensch meinesgleichen, mein Freund und mein Vertrauter,

15die wir die Süße der Gemeinschaft miteinander erlebten, ins Haus Gottes gingen in festlicher Unruhe!

Nicht Nebukadnezar hat sich des gelobten Landes bemächtigt, und nicht Kim Jong-un hat die Gemeinde unterworfen.

Sondern die Reduzierung der Gemeinde auf Durchschnittlichkeit kommt von innen.

Dass die übernatürliche Gemeinde, die durch die Wunder in Beziehung zum Pharao entstanden ist und die durch die überirdischen Ereignisse in der Wüste bestätigt und konsolidiert wurde, dass die nun auf ein natürliches Maß weltlicher Vorstellungen zurückgefahren wird, das kommt von innen.

Das ist die Entscheidung der Gläubigen, nicht die Entscheidung des Teufels oder eines äußeren Feindes.

Die Gegnerschaft gegen den eigentlichen Willen Gottes kommt nicht von den Römern. Sie kommt von den Juden.

Die weltlichen Herrscher haben gelegentlich versucht, die Gemeinde zu verbieten oder sie auszurotten, indem sie alle Gläubigen umgebracht haben. Aber die weltlichen Herrscher verstehen den Willen Gottes nicht und können darum auch nicht die Prozesses innerhalb der Gemeinde beeinflussen.

Den Willen Gottes kann man nur hintertreiben, wenn man einen Einblick in ihn hat.

Um die Bibel aus ihrer Position zu vertreiben, muss man die Bibel kennen.

Darum sagt das Neue Testament auch immer wieder, dass der Antichrist aus der Mitte der Gemeinde kommen wird. Der Verräter muss Stallgeruch haben, sonst kann er nicht erfolgreich als Verräter wirken.

Eine sanfte, christliche Antwort

Der Autor schlägt aufgrund dieses Verrats von Gottes Willen nun eine entsprechende, passende und christliche Konsequenz vor: Psalm 55,16

16Der Tod überrasche sie, lebendig mögen sie hinabfahren in den Scheol; denn Bosheiten sind in ihrer Wohnung, in ihrem Innern.

Wenn die Verräter dem Autor ein paar Bleistifte geklaut hätten, wäre diese Forderung einer Konsequenz übertrieben.

Selbst wenn die Verräter das Konto des Autors leergeräumt hätten, wäre ein solcher Fluch unangemessen.

Aber hier geht es um den Verrat an Gottes Willen.

Hier geht es um die Zerstörung der größten und bedeutendsten Erfindung der Weltgeschichte, nämlich der Gemeinde.

Gott setzt etwas wortwörtlich wunderbares in die Welt: Einen Laden, in dem er wohnen kann; eine Institution, in der die Menschen ihm nah sein können; letztlich also Gottes einziges Standbein auf der Erde.

Und dann kommen Leute und machen dieses größte und grandioseste Ding der Weltgeschichte von innen her kaputt.

Für so etwas kennt die Bibel keine Gnade.

Es gibt ein Unmenge Sünden, die können den Menschen problemlos vergeben werden. Man kann tausendfach daneben liegen und Mist bauen ohne Ende, und man wird immer feststellen, dass Gottes Gnade größer ist als die eigene Blödheit.

Aber die Sünde gegen den heiligen Geist, die ist nicht vergebbar.

Wer die Gemeinde von innen her auf ein Normalmaß reduziert – wer also im Grunde Gott aus der Gemeinde vertreibt, weil der zu radikal und zu ungewöhnlich ist – dem droht die schlimmste Strafe, die in Gottes großen Universum zur Verfügung steht.

Der Problemlöser

Wenn es mal wieder soweit ist, dass die Gemeinde von innen heraus zerstört wird, dann ist das Problem durch Menschen nicht mehr zu lösen.

Weder Mose hat es selber lösen können – die Erdspalte, in welcher die Familie Korach verschwand, hat nicht Mose geöffnet – noch Elia hat das Problem lösen können - obwohl er dachte, er habe es auf dem Karmel gelöst, musste er dann vor Isebel fliehen und sich von Gott einen längeren Vortrag am Gottesberg anhören.

Nein, die Lösung eines der wichtigsten Probleme der Weltgeschichte sieht so aus: Psalm 55,17–20

17Ich aber, ich rufe zu Gott, und der HERR rettet mich.

18Abends und morgens und mittags klage und stöhne ich; und er hat meine Stimme gehört.

19Er hat meine Seele zum Frieden erlöst, dass sie mir nicht nahen können; denn mit vielen sind sie gegen mich gewesen.

20Hören wird Gott und sie unterdrücken – er thront ja von alters her; weil es keine Zuverlässigkeit bei ihnen gibt und sie Gott nicht fürchten.

Die Begründung für die Härte

Es folgt jetzt noch die Begründung, warum Gott hier so entschieden eingreifen muss und auch wird. Wie der Autor schon vorhin sagte: Wenn man es mit einem durchschnittlichen Feind zu tun hätte, wäre es kein Problem. Vor Bomben kann man weglaufen, und vor Scharfschützen kann man sich verstecken.

Aber es sind eben keine durchschnittlichen Feinde, und es wird auch nicht mit Bomben und Schusswaffen gekämpft: Psalm 55,21–22

21Er hat ausgestreckt seine Hände gegen seine Freunde, entweiht hat er seinen Bund.

22Glatter als weiche Butter ist sein Mund, und Feindschaft ist sein Herz; geschmeidiger als Öl sind seine Worte, aber sie sind gezogene Schwerter.

Die Leute, welche die Gemeinde auf Normalmaß degradieren, die finden dafür Bibelstellen. Oder vernünftige Gründe.

Wer das Übernatürliche aus der Gemeinde entfernen will, weil es so unberechenbar ist, der findet in den Sprüchen bestimmt etwas über Weisheit und den goldenen Mittelweg.

Wer Gott aus der Gemeinde herausdrängen will, weil Gott sich unseren Wünschen nicht anpasst und dauernd eine eigene Meinung hat, dem werden ein paar vernünftige Argumente einfallen.

Die, die die Gemeinde verderben, reden genauso fromm, wie die Pharisäer fromm geredet haben. Man kann gegen sie nicht vorgehen, denn sie sprechen Bibel und falten bei ihrem Tun artig die Hände.

Und weil es kein offener Kampf ist, sondern ein verlogener, darum haben sie Gott so gründlich gegen sich. Jesus hat einiges über Heuchler gesagt. Leute, die lauthals propagieren, den Willen Gottes zu tun. Gott haben sie aber nie gefragt.

Der letzte Gegensatz

Das Ende bildet der zusammenfassende Gegensatz zwischen denen, die die Gemeinde auf Durchschnittlichkeit reduzieren wollen, und denen, die die ganze Größe Gottes in der Gemeinde haben wollen. Psalm 55,23–24

23Wirf auf den HERRN deine Last, und er wird dich erhalten; er wird für ewig nicht zulassen, dass der Gerechte wankt.

24Und du, Gott, wirst sie hinabstürzen in den Brunnen der Grube; die Männer des Blutes und des Betruges werden ihre Tage nicht zur Hälfte bringen. Ich aber will auf dich vertrauen.

Dieses harte Urteil liegt darin begründet, dass die Gemeinde der einzige Einflussfaktor Gottes in der Welt ist.

Wenn jemand Gott kennenlernen soll, muss es in irgendeiner Weise über die Gemeinde geschehen. Dabei ist es egal, ob ein Gemeindeglied ein Buch schreibt oder ob man im Gottesdienst Gott begegnet. Es ist zweitrangig, ob nun ein Missionar flammende Reden hält oder ob das anhaltende Gebet von Oma Else die entscheidende Veränderung herbeiführt.

Sicher, es können auch die Steine schreien. Aber Jesus hat darauf hingewiesen, dass man besser mit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenkt wird, als dass man einen geringen Menschen daran hindert, zu Gott zu kommen.

Nicht so plump

Dieses Lehrgedicht ist für den Gottesdienst geschrieben worden, und es ist nicht so plump geschrieben, dass die Leute nun aufgefordert werden, irgendwelche Übeltäter auszumachen und sie zu verpetzen.

Das Lehrgedicht soll vielmehr die Menschen im Gottesdienst darauf hinweisen, wo sie hier eigentlich sind.

Diese völlige Einmaligkeit der Gemeinde von ihrer ganzen Art her.

Die Gemeinde ist der neue Körper Christi – die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt (Eph 1,23).

Die Gemeinde ist die Säule und das Fundament der Wahrheit (1.Tim 3,15).

Und wer in die Gemeinde kommt und dann nichts anderes erwartet, als dass wir hier grüner sind als die Grünen und barmherziger als das Rote Kreuz und großzügiger als die Bill-Gates-Stiftung und höflicher als Prinz William, der hat den Willen Gottes für die Gemeinde nicht verstanden und stellt sich gegen den Willen Gottes.

Die Gemeinde ist das wunderbarste und großartigste, was es auf der Erde gibt. Sie ist die Repräsentanz Gottes und der Tempel des Heiligen Geistes.

Die Gemeinde ist das letzte, was überleben wird, und sie ist damit der eigentliche Mittelpunkt allen Weltgeschehens.

Und darum ist dieser Psalm 55 in der Psalmensammlung und damit in unserer Bibel gelandet.

Wie gesagt: Ich hätte eine ordentliche Dokumentation geschrieben, um diese Zusammenhänge darzustellen.

Der orientalische Autor hat es so gemacht.

Ist aber auch nicht schlecht.