Psalm 52 – verknotete Gnade

Dieser Psalm ist arg verknotet.

Es fängt schon damit an, dass dieser Psalm gar kein richtiger Psalm ist. Es findet keine Anrede Gottes statt. Keine Bitte an Gott, keine Anrufung Gottes. Erst im letzten Vers wird Gott gepriesen, und auch da nur sehr sachlich und verhalten. Und es geht ganz technisch los: Psalm 52,1

1Dem Chorleiter. Ein Maskil. Von David.

Wieder einmal haben wir nicht etwa einen spontanen Gefühlsausbruch von David oder irgendetwas anderes authentisches, von Herzen kommendes. Sondern wir haben ein Lehrgedicht für den Gottesdienst. Würde heute von einem Schulbuchverlag herausgegeben werden.

Was der Leser wissen sollte

Dieses Lehrgedicht knüpft an einen bestimmten Moment in der Geschichte Israels an. Psalm 52,2

2Als Doëg, der Edomiter, kam und dem Saul berichtete und ihm sagte: David ist in das Haus Ahimelechs gekommen.

Man geht davon aus, dass der Leser nicht nur die geschichtlichen Fakten kennt, die hinter dieser Geschichte stehen, sondern auch die Konsequenzen kennt, welche solche Fakten in der Regel nach sich ziehen.

(Oder anders gesagt: Das Meiste, was Sie wissen müssen, steht im Psalm nicht drin. Das macht das Verknotete an dem Psalm aus, dass er über Dinge spricht, die er nicht explizit benennt, sondern als selbstverständlich voraussetzt.)

Die Grundlage der geschichtlichen Fakten ist, dass Saul ursprünglich von Gott als König von Israel ausgewählt worden war. Nach damaligem Verständnis war es selbstredend, dass daraus eine Dynastie entstehen würde (die Idee eines Wahlkönigtums war nicht wirklich verbreitet).

Aber irgendwann hat Saul in einer vermeintlichen Notlage nicht auf Samuel gewartet, der vor einem Kriegsbeginn ein Opfer für Gott bringen wollte oder musste. Saul brachte das Opfer dann selbst, und daraufhin kündigte Samuel ihm an, dass Saul nicht dauerhaft König sein könne und es mit der Dynastie nichts würde.

Später hat Saul dann gegen die deutliche Anweisung von Gott verstoßen, dass die Amalekiter samt ihrem Vieh auszurotten sind, weil sie sich vehement gegen Gott gestellt hatten. Daraufhin kündigte Samuel dem Saul an, dass er abgesetzt würde und Gott sich einen neuen König suchen würde. Und Samuel brach ab diesem Moment jeden Kontakt zu Saul ab, so dass das politische Israel ab jetzt völlig isoliert vom religiösen Israel war. Die Regierung von Israel war jetzt sozusagen gottlos.

Als dann David auftauchte, war die Feindschaft von Saul gegen David zuerst nur persönlicher Natur. Es war der blanke Neid auf einen, der es besser konnte als Saul selbst, auf den Saul aber auch angewiesen war und den er deshalb nicht verjagen konnte.

Die Sache mit Doeg

Zu der Zeit, als Doeg ins Spiel kommt, war die Feindschaft von Saul gegen David politisch geworden. Saul verstand, dass David der nächste König würde und dass es mit der Dynastie ganz sicher nichts würde, solange David lebte.

Zudem verstand Saul nicht, dass David den vorherigen König niemals töten würde. Also lebte er in der Angst, dass David ihn umbringen würde, um auf den Thron zu kommen.

David hatte seinerseits registriert, dass die Feindschaft jetzt politisch und damit lebensgefährlich geworden war, und folglich war er geflohen.

Doeg, untergeordneter Staatssekretär bei Saul, hatte dann zufällig mitbekommen, wie die Priester im Heiligtum David auf der Flucht mit Proviant und Waffen geholfen hatten – vermutlich ohne wirklich zu wissen, dass sie damit gegen den König handelten.

Auch Doeg hatte diese Zusammenhänge nicht kapiert, aber als Saul dann während einer Kabinettssitzung fragte, warum ihm niemand erzählt, wo David sei, da hatte Doeg eben erzählt, was er zufällig mitbekommen hatte.

Gott als Feind

Und in diesem Moment kommt zum Ausdruck, was latent sicher schon eine Weile durch Sauls Hirn geisterte: dass Gott jetzt Sauls Feind war. Und wenn nicht sein Feind, so doch zumindest nicht mehr sein Freund. Und dass Saul jetzt selber sehen musste, wie er sich selbst und seine Dynastie mit den Mitteln rettete, die ihm zur Verfügung standen.

Man muss hierzu bedenken, dass es damals durchaus üblich war, dass ein neuer König seinen Vorgänger und dessen gesamte Familie umbrachte, um auf diesem Weg jede Konkurrenz auf den Thron aus dem Weg zu räumen. Mit so einem Szenario rechnete Saul jetzt auch, weil er ja fälschlicherweise davon ausging, dass Gott nicht mehr auf seiner Seite war.

Da Gott und seine Priester jetzt also scheinbar gegen Saul waren, ließ Saul die Priester samt allen ihren Angehörigen umbringen. Dass Doeg derjenige war, der den Mordbefehl ausführte, war wiederum eher Zufall. Denn die israelitischen Regierungsmitglieder weigerten sich, Gottes Priester umzubringen. Sie waren nicht bereit, Krieg gegen Gott zu führen. Doeg war Edomiter und hatte keine Familiengeschichte mit Gott. Die Scheu, Gottes Beauftragte umzubringen, war ihm fremd.

Benennung der Fehleinschätzung

Wenn jetzt der Psalm richtig losgeht, muss man wissen, dass der Psalm gar nicht von Doeg handelt, auch wenn dieser in der Einleitung erwähnt wird. Doeg ist nur durch Zufall in die Geschichte hineingeraten, und er ist auch nicht zu Saul gelaufen und hat David verpetzt. Sondern auf Nachfrage von Saul hat Doeg erzählt, was er zufällig mitbekommen hatte. Doeg war weder besonders gut noch besonders schlecht. Der aggressive Ton des Psalms richtet sich gegen Saul.

Mit Beginn des eigentlichen Psalms wird nun die Fehleinschätzung von Saul benannt. Es geht nicht um Sauls Bosheit, sondern es geht um die Bosheit als Werkzeug. Die Frage an Saul ist: Warum benutzt du einen Hammer, wo man doch mit ein paar Feuchttüchern das Ganze ohne Schaden beheben könnte?

Oder biblisch ausgedrückt: Warum benutzt du die Bosheit, wo doch die Gnade Gottes den ganzen Tag funktioniert?

Psalm 52,3

3Was rühmst du dich der Bosheit, du Gewaltiger? Die Gnade Gottes währt den ganzen Tag.

Und die Gnade Gottes ist hier bezüglich Saul gemeint.

Denn Saul dachte, die Gnade Gottes gilt ihm jetzt nicht mehr.

Wenn Gott dem Saul als König gekündigt hat und es keine Dynastie mehr geben wird und Gott seine besondere Berufung zurückgezogen hat, dann steht Gott nicht mehr auf Sauls Seite.

Ist Quatsch.

Aber Sauls Gottesbild hatte keinen Platz dafür, dass Gott einen neuen König bestimmt und dann trotzdem auf Sauls Seite steht. Dass er also Saul segnet und Saul beschützt trotz dem, dass es jetzt nicht mehr nach Sauls Vorstellungen läuft und Saul ja Gott auch nicht wirklich so richtig verstanden hat.

Gut, er hätte es besser wissen müssen.

Auch den Kain hat Gott beschützt, nachdem der seinen Bruder umgebracht hatte.

Nur weil Saul die Dinge nicht so hinbekommen hat, wie es optimal gewesen wäre, fällt er nicht aus Gottes Gnade raus.

Saul hatte durch seine Berufung durch Gott eine hohe Verantwortung, und der war er nicht gewachsen gewesen. Aber Gott ist doch nicht so ein Fiesling, dass er einem erst eine große Verantwortung auflädt, und wenn man die Last dann nicht tragen kann, dann serviert Gott einen mit Stumpf und Stiel ab.

Der Krieg

Und obwohl Gott keineswegs einen Krieg gegen Saul anfangen wollte, sondern Saul weiterhin mit Güte und Gnade begegnen wollte, hat Saul trotzdem einen Krieg mit Gott angefangen und die Priester umgebracht.

Und dabei hat er gelogen, und zwar nicht zu knapp: Er hat sowohl David als auch Jonathan als auch die Priester beschuldigt, ein Komplott gegen Saul geschmiedet zu haben. Und er wusste, dass das nicht wahr war: Psalm 52,4–6

4Verderben plant deine Zunge, wie ein geschliffenes Schermesser, du Lügner.

5Du hast das Böse mehr geliebt als das Gute, die Lüge mehr als gerechtes Reden.

6Du hast alle Worte des Verderbens geliebt, du betrügerische Zunge!

Dass Saul behauptet hat, Gottes Gesalbter und Gottes Priester und damit Gott selber würden gegen Saul kämpfen, das wird Saul so übel genommen, dass Gott die Kriegserklärung annimmt: Psalm 52,7

7Gott wird dich auch zerstören für immer; er wird dich niederschlagen und herausreißen aus dem Zelt und entwurzeln aus dem Land der Lebendigen.

Das Urteil der Zuschauer

Nun wird die Erklärung gegeben. Man wollte dem Leser die Möglichkeit geben, zu verstehen, was hier geschehen ist.

Die Erklärung wird den Gerechten in den Mund gelegt. Man dachte: Wenn jemand versteht, wie es richtig gewesen wäre, dann sind das die Gläubigen. Psalm 52,8–9

8Und sehen werden es die Gerechten und sich fürchten, und sie werden über ihn lachen:

9»Siehe, der Mann machte nicht Gott zu seinem Schutz, sondern vertraute auf die Größe seines Reichtums, durch sein Schadentun war er stark!«

Dass Saul Gott den Krieg erklärte, obwohl Gott doch sein Schutz hätte sein können, das ist das Absonderliche an dieser Geschichte.

Dass so wenig Gotteserkenntnis da war, dass Saul tatsächlich dachte, Gott könne nicht mehr Sauls Schutz sein, weil er ja Davids Schutz war!

Und dass Saul tatsächlich dachte, er könne sich erfolgreich mit Gott oder mit Gottes Leuten anlegen! Nicht nur, dass er meinte, er könne ungestraft die Priester töten; sondern er dachte ja auch, er könne David (der doch angeblich unter Gottes Schutz stand) töten und hätte damit das Problem gelöst.

Saul war zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon über 10 Jahre König, und er hatte in dieser Zeit sicher genug Geld eingesammelt, um Söldner zu bezahlen oder sich Entgegenkommen zu erkaufen. Dass er nun aber glaubte, mit entsprechendem Aufwand gegen Gottes Pläne vorgehen zu können, zeigt, wie klein er von Gott dachte.

Ja, er dachte so klein von Gott, dass er tatsächlich meinte, Gott könne entweder nur auf seiner Seite stehen oder auf Davids Seite. Die Vorstellung, dass Gott immer noch gnädig an Saul handeln könnte, obwohl Saul den Auftrag in den Sand gesetzt hatte, war für Saul völlig fremd.

Dass Gott seine Gnade nicht einfach aufkündigt, nur weil ein Mensch den Anforderungen Gottes nicht entsprechen konnte, das war für Saul unvorstellbar.

Wie es hätte sein können

Jetzt wird der Gegensatz zu Saul beschrieben, und das ist David.

David ist nicht deshalb der Gegensatz zu Saul, weil er alles richtig macht. Es geht nicht um die Qualität der Handlungen. Psalm 52,10

10Ich aber bin wie ein grüner Olivenbaum im Hause Gottes; ich vertraue auf die Gnade Gottes immer und ewig.

Ein Olivenbaum ist immergrün, wächst auch auf schlechten Böden und wird leicht hundert Jahre alt. Das ist hier ein Bild soliden Lebens. Der steht im Haus Gottes, und der bleibt da auch stehen, und der bringt da auch Frucht.

Dieser Zustand ist darauf zurückzuführen, dass David das macht, was Saul versäumt hat: Er vertraute auf die Gnade Gottes immer und ewig.

Hier steht „ewig“, weil betont werden soll, dass Gottes Gnade für die, die Gott zu ihrem Schutz gemacht haben, wirklich nie aufhört. Ganz egal, ob man die Prüfung bestanden hat oder ob einem das Leben entglitten ist.

Das Schlusswort verliert sich im Allgemeinen

Wo wir im vorigen Vers ohnehin schon bei der Ewigkeit waren, bleiben wir jetzt dabei. Weil Gottes Gnade ewig ist und es ziemlich viel braucht, damit Gott einem Menschen die Gnade aufkündigt, darum will David Gott nun ewig dafür preisen, dass Gott ihn zu einem Olivenbaum gemacht hat. Psalm 52,11

11Ich werde dich ewig preisen, weil du es getan hast; und auf deinen Namen – denn er ist gut – werde ich harren vor deinen Getreuen.

Und dann am Schluss die Begründung, die wir auch schon aus Psalm 54 kennen: Gottes Name ist gut.

Gemeint ist hier: Gott ist nur Licht; Gott hat keine Nachteile; Gott ist durch und durch und ohne Ausnahme gut.

Das hat Saul nicht gewusst. Saul dachte sich Gott ähnlich einem Menschen. Mit einer wackeligen und unzuverlässigen Treue.

Die Wahrheit ist aber, dass Gott niemals einen Menschen preisgeben wird, der Gottes Standards nicht erfüllen konnte. Darum heißt es ja „Gnade“, und darum benutzt der Autor hier zweimal das Wort „ewig“.

Was der Psalm also soll

Der Psalm wurde geschrieben, damit niemand auf die gleiche Idee kommt wie Saul.

Damit niemand denkt, Gottes Güte wäre wechselhaft wie menschliche Güte.

Damit keiner auf die Idee kommt, Gott würde einem Schutz und Segen entziehen, nur weil man eine Aufgabe Gottes nicht richtig hinbekommen hat.

Wenn es nur einen einzigen Grund gäbe, an Gottes Güte und Gnade zu zweifeln, dann könnte es auch noch einen anderen geben und noch einen dritten. Es darf also überhaupt keinen Grund geben, aus dem Gott seine Liebe und Güte dem Menschen entzieht. Denn wenn es auch nur einen solchen Grund gäbe, dann kann man sich unendlich viele weitere Gründe vorstellen, und dann macht es keinen Sinn mehr, sich auf Gott zu verlassen.

Darum kann selbst die Tatsache, dass man als König versagt hat und dass den Job jetzt jemand anderer bekommt, kein Grund sein, dass Gott einem Menschen Schutz und Gnade entzieht.

Damit ist der Psalm ein Vorgriff auf Jesus, der niemals bereit war, den Zöllnern und Sündern seine Zuwendung zu entziehen, und der auch dem Kriminellen am Kreuz noch Gottes Gnade zusprach. Wenn Jesus bei Zachäus einkehrt und sich von einer „Sünderin“ salben lassen kann, dann ist nicht damit zu rechnen, dass Gott mich schräg anschaut oder mir sogar seinen Schutz entzieht.