Psalm 6 – Eine Frage der Parteilichkeit.

Wenn Sie ein Anhänger von Unparteilichkeit und Neutralität sind, sollten Sie den Psalm 6 nicht lesen.

Und wenn Sie unausgewogene Einseitigkeit nicht haben können, gilt das Gleiche.

Dieser Psalm lebt nämlich von der Parteilichkeit Gottes.

Welcher scheinbar überhaupt nicht daran denkt, alle Leute gleich zu behandeln.

Erste Strophe: Gott ist gegen mich

Der Gläubige hat den Eindruck, Gott kämpfe gegen ihn.

Gott habe etwas gegen ihn.

Gott sei auf der Seite irgendwelcher Feinde.

Ja, der Gläubige meint sogar, dass Gott ihn vielleicht straft. Dass Gott zornig auf ihn ist.

Ps 6,2-4

2 HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm!

3 Sei mir gnädig, HERR, denn ich bin welk; heile mich, HERR, denn meine Gebeine sind bestürzt.

4 Meine Seele ist tief bestürzt. Aber du, HERR, bis wann —?

Von anderen Feinden ist hier übrigens nichts zu sehen. Die bösen Menschen, die in einigen Psalmen vorkommen, die fehlen hier. (Auch wenn ab Vers 8 gewisse „Dränger“ vorkommen.)

Es wird hier mehr ein seelischer Zustand beschrieben, der auch ohne böswillige Feinde eintreten kann.Psalm 6,1

Es geht hier mehr um das, was David denkt, als um die realen Verhältnisse.

Und der Vers 4 spricht es an: Gott scheint es egal zu sein.

Oder, so Vers 2: Vielleicht ist das, was ich durchlebe, sogar eine Strafe Gottes. Ach, vielleicht ist es auch nur „Gerechtigkeit“, und mir widerfährt etwas, was ich mir selber zuzuschreiben habe.

Zweite Strophe: Argumentation mit Gott

Aber natürlich ist das blöd, wenn Gott gegen einen ist.

Noch dazu, wenn man, wie David, ein Beauftragter Gottes ist – in diesem Falle also ein König oder ein zukünftiger König.

Das versucht David jetzt Gott beizubringen: Er argumentiert.

Er konfrontiert Gott mit den offensichtlichen Tatsachen.

Und er erklärt, dass das überhaupt keinen Sinn macht, wenn Gott gegen ihn ist.

Das ist völlig an der Sache vorbei.

Es macht insbesondere für Gottes Ziele und Vorhaben keinen Sinn:

  • Im Totenreich wird Gott nicht gefeiert und nicht geliebt. Das Sterben eines Menschen bringt Gott nichts.

  • Wenn David vollkommen müde und niedergeschlagen und verzweifelt ist, hat Gott gar nichts davon. Das ist völlig kontraproduktiv.

Im Grunde erzählt David Gott also, wie Gott eigentlich denkt und ist. Er zeigt, dass er verstanden hat, wie Gott richtigerweise ist oder sein sollte.

Ps 6,5-8

5 Kehre um, HERR, befreie meine Seele; rette mich um deiner Gnade willen!

6 Denn im Tod ruft man dich nicht an; im Scheol, wer wird dich preisen?

7 Müde bin ich durch mein Seufzen; die ganze Nacht schwemme ich mein Bett, mache mit meinen Tränen mein Lager zerfließen.

8 Geschwächt von Gram ist mein Auge, gealtert wegen all meiner Dränger.

Dritte Strophe: Gottes Seitenwechsel

In der dritten Strophe hat nun Gott die Seiten gewechselt.

Ja, ich weiß schon: Vermutlich hat er es nicht getan. Vermutlich war Gott schon immer auf Davids Seite, David hat das bloß nicht richtig gemerkt.

Vielleicht hat David die Umstände falsch interpretiert.

Auf jeden Fall weiß David jetzt, dass Gott auf seiner Seite ist.

Und er wird vermutlich nicht von selbst drauf gekommen sein, denn das hätte er dann schon vor dem Schreiben des Psalms tun können.

Ich gehe davon aus, dass Gott es ihm aufgrund des vorhergehenden Gebetes mitgeteilt hat.

Gott tut nichts

Das erstaunliche ist nun, dass Gott überhaupt nicht macht.

Er hilft David nicht.

Das würde man doch erwarten: Dass Gott eingreift; dass Gott die Feinde oder die Probleme zerschlägt, abdrängt, vernichtet.

Macht er aber nicht.

Nicht Gott befiehlt den Bedrängern, dass sie David in Ruhe lassen sollen, sondern David befiehlt ihnen.

David stellt eine Distanz zu den Problemen her, die ihm so nah auf die Pelle rücken wollten.

Und die einzige Begründung dafür, dass die Probleme jetzt Abstand halten müssen, ist, dass Gott auf Davids Seite ist.

Die Begründung ist keineswegs, dass Gott irgendwas geantwortet hat.

Oder dass Gott eine Weisung erteilt hat.

Nein, Gott hat nur mitgeteilt, dass er auf Davids Seite ist: Davids Stimme hört, sein Gebet annimmt.

Und (!) das (!) reicht (!) dann !!!!! Gott muss nichts machen! Er muss ich nur sichtbar neben David stellen. Und ab dem Moment kann David den Problemen Befehle erteilen.

Ps 6,9-10

9 Weicht von mir, alle ihr Übeltäter; denn der HERR hat die Stimme meines Weinens gehört.

10 Der HERR hat mein Flehen gehört; mein Gebet nimmt der HERR an.

Die Peinlichkeit

Ja, das ist dann blöd.

Wenn Gott sich auf die Seite der anderen stellt.

Und damit eindeutig klar wird: Sie selbst stehen auf der falschen Seite.

Psalm 6,11Gott entscheidet sich für denjenigen, den Sie für null und nichtig hielten.

Womit Sie erkennen dürfen, dass Gott Ihre Meinung für null und nichtig hält.

Ist schon peinlich. Wenn man so offensichtlich daneben liegt. Und wenn man nicht selber drauf gekommen ist, sondern Gott es offiziell und für jedermann sichtbar macht.

11 Beschämt und tief bestürzt werden alle meine Feinde; sie müssen zurückweichen, werden plötzlich beschämt.

Es ist wirklich beachtlich, dass hier 2x „beschämt“ steht und es gar nicht darum geht, dass Gott die Feinde zu Matsch verarbeitet.

Können Sie sehen, wie Ihre Probleme peinlich gerührt zu Boden blicken?

Ist Ihnen gegenwärtig, wie Ihre Ängste sich betreten aus dem Raum zu schleichen versuchen?

Wie fühlt es sich an, Ihre Sorgen so völlig blamiert und soooooo klein mit Hut dastehen zu sehen?

Ach, ist nicht so?

Ja, Sie müssen es denen schon sagen.

Sie müssen gegenüber Ihren Problemen schon eine Haltung annehmen.

Sie müssen denen schon kundtun, was Sache ist.

Von alleine werden die nicht zugeben, dass die auf dem völlig falschen Dampfer sind.

Darüber geht doch schließlich dieser Psalm: Dass Gott auf Ihrer Seite ist, und dass Sie selbst es wissen sollen und Ihre Feind auch.

P.S.:

Dieses Prinzip der Herrschaft der Heiligen haben Sie übrigens genauso im Neuen Testament.

Jesus hat den Krankheiten und den Dämonen befohlen. Er hat nicht Gott gebeten, dass er die Probleme wegmachen soll.

Und die Apostel und die ersten Jünger haben ebenfalls den Problemen befohlen. Sie haben Gott nicht angebettelt, dass er den Lahmen an der Tempeltür heilen soll, und im Gefängnis in Philippi haben sie nicht Gott ihr Leid geklagt, sondern Loblieder gesungen. Weil nämlich Gott auf ihrer Seite war. Und weil sie das wussten.

Noch ein P.S.:

Das Problem, dass die Leute nicht wissen, ob Gott nun eigentlich auf ihrer Seite ist, scheint weit verbreitet zu sein.

Anders ist es nicht zu erklären, dass hier extra ein Lied zu diesem Thema für den Gottesdienst geschrieben wurde.

Denn Sie lesen mit dem Psalm 6 nicht einen Tagebucheintrag von David oder eine spontane Antwort bei einer Straßenumfrage. Der Text ist nicht im modernen Sinn „authentisch“ oder eine dem augenblicklichen Bedürfnis folgende Ausgießung der Herzensbewegung.

Sie lesen Literatur: Durchdacht, geformt, stilvoll, mit einem gewollten Erzählstrang. Und vermutlich 20mal überarbeitet, bis es endlich so war, dass man es veröffentlichen konnte.

Das sieht man im ersten Vers: Sogar das Instrument ist vorgegeben. Damit nicht jemand auf die Idee kam, die Begleitung auf einem Akkordeon zu spielen.

Schließlich sollte die Botschaft ja bestmöglich rüberkommen: Dass Gott auf der Seite der Gläubigen ist, und was das für die Gläubigen praktisch bedeutet.