Psalm 69 - die Sache mit dem Schlamm

Dieser Artikel erklärt Ihnen, warum Sie so einen trüben Psalm trotzdem immer wieder lesen sollten. Und warum er wahr ist. Und wie Gott die Bitten des Erzählers erhört und gleichzeitig nicht erhört.

Nein, es macht erstmal keinen Spaß, diesen Psalm zu lesen.

Dieser Psalm beschreibt das Worst-Case-Szenario, das zwischen der Gemeinde und dem Gläubigen entstehen kann.

Der Psalm beschreibt die schlimmste denkbare Situation, in die jemand kommen kann, der Gott und das Reich Gottes liebt.

Von vorne

Es beginnt damit, dass uns der erste Vers mitteilt, dass wir es mit wohldurchdachter Literatur zu tun haben. Denn man überreicht dem Chorleiter nicht sein geheimes Tagebuch, damit er es im Gottesdienst vorliest oder singen lässt. Auch einen Brief an Tante Gertrud wird man nicht dem Chorleiter zum öffentlichen Vortragen überlassen.

Ps 69,1-5

1 Dem Chorleiter. Nach Schoschannim. Von David.

Die fiktive Person.

Und weil das hier Literatur ist, haben wir es mit einer erfundenen Geschichte zu tun. Das ist bei Literatur nun einmal so, dass sie von einem kreativen Menschen stammt, denn Literatur ist eine Gattung der Kunst.

Damit ist natürlich auch die Person, die in diesem Psalm in der Ich-Form erzählt, eine fiktive Person.

Das Besondere nun ist, dass wir Spätergeborenen feststellen können, dass dieser Psalm wahr ist. Obwohl er eine Erfindung ist. Und darum haben diejenigen, die die Psalmen zusammengestellt haben, diesen Psalm auch in die Sammlung aufgenommen. Dass irgendwie ziemlich viel Gott in diesem Psalm steckt, das haben die schon damals gemerkt.

Ob allerdings derjenige, der diesen Psalm geschrieben hat, vorausgesehen hat, in welchem Ausmaß dieser Psalm einmal wahr werden würde, das glaube ich eigentlich nicht.

Der schlimmste Fall

Wir lesen also das Worst-Case-Szenario, das einem Gläubigen mit seiner Gemeinde geschehen kann. Es geht damit los, dass beschrieben wird, in welcher Seelenlage sich die fiktive Person befindet:

2 Rette mich, Gott, denn Wasser ist bis an die Seele gekommen.

3 Ich bin versunken in tiefen Schlamm, und kein fester Grund ist da; in Wassertiefen bin ich gekommen, und die Flut schwemmt mich fort.

4 Ich bin müde von meinem Rufen, entzündet ist meine Kehle; meine Augen vergehen vom Harren auf meinen Gott.

5 Mehr als die Haare meines Hauptes sind die, die mich ohne Ursache hassen; mächtig sind, die mich vernichten wollen, meine Feinde <sind sie> ohne Grund; was ich nicht geraubt habe, das soll ich dann erstatten.

Im Weiteren des Psalms wird deutlich, dass es dem Ich-Erzähler nicht so schlecht geht, weil ein Erdbeben stattgefunden hat oder weil er Krebs hat oder weil seine Frau ihn verlassen hat.Psalm 69

Der Grund, warum es der Person so schlecht geht, ist, dass sie sich mit aller Kraft für Gott einsetzt und für Gottes Gemeinde. Und die zahlreichen Feinde sind nicht irgendwelche gottlosen Araber, sondern Israeliten. Mitglieder des Reiches Gottes.

Wird Gott nun den Erzähler aus dem Schlamm und dem Wasser befreien? Bleiben Sie dran!

Die Peinlichkeit

Dass die Hauptperson sich so kompromisslos für Gott einsetzt, das lässt sie vor der Mehrheitsgesellschaft lächerlich erscheinen. Man hält sie für einen religiösen Trottel. Und nun hat er Sorge, dass er in seinem Eifer einen Fehler macht und das dann auf alle anderen Gläubigen zurückfällt, dass die anderen Gläubigen also durch seine Fehler blamiert werden.

Ps 69,6-7

6 Du, Gott, hast meine Torheit erkannt, und meine Verschuldungen sind dir nicht verborgen.

7 Lass nicht durch mich beschämt werden, die auf dich hoffen, Herr, HERR der Heerscharen! Lass nicht an mir zuschanden werden, die dich suchen, Gott Israels!

Der Erzähler will ja das Gute für das Reich Gottes, und wenn die anderen Gläubigen sich wegen ihm schämen müssen, wäre ihm das nicht recht.

Der Grund

Kommen wir nun zum Grund, warum es dem Erzähler so schlecht geht.

Es geht nicht darum, dass der Ich-Erzähler irgendwelche unschönen Erlebnisse hatte oder das Leben ihm hart mitspielte oder das Schicksal ihm einen harten Schlag versetzt hat. Sondern es geht einzig darum, dass der Erzähler sich kompromisslos für Gott einsetzt.

Ps 69,8-10

8 Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Gesicht.

9 Entfremdet bin ich meinen Brüdern und ein Fremder geworden den Söhnen meiner Mutter.

10 Denn der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.

Die Apostel haben diesen Vers dann später auf Jesus bezogen (Jh 2,17), und überhaupt quillt dieser Psalm nur so über von Formulierungen, die im Neuen Testament auf Jesus bezogen werden. Dieser Psalm ist nämlich dadurch total wahr geworden, dass er das Erleben Jesu beschreibt.

Denn das Worst-Case-Szenario zwischen der Gemeinde und dem Gläubigen hat auch bei Jesus stattgefunden.

Wird Gott den Erzähler aus dieser schwierigen Situation befreien? Bleiben Sie dran!

Die Reaktion auf die Gottesliebe

Nun beschreibt der Erzähler die Reaktion der Umwelt auf seine Liebe zu Gottes Gemeinde. Und man muss dabei bedenken, die Umwelt war nicht säkular. Die Umwelt war kirchlich.

Ein Leben ohne Religion war für damalige Menschen undenkbar. Eine Welt ohne Götter konnte man sich im Altertum nicht vorstellen.

Hier also nun die Reaktion der kirchlich geprägten Menschen Ps 69,11-13

11 Als ich weinte <und> meine Seele fastete, da wurde es mir zu Schmähungen.

 12 Als ich mich in Sacktuch kleidete, da wurde ich ihnen zum Sprichwort.

 13 Die im Tore sitzen, reden über mich, und <auch> die Spottlieder der Zecher.

Dass der Erzähler traurig ist über den Zustand des Reiches Gottes, das halten diese Leute für lächerlich. Dass der sich Sorgen macht über Gottes Gemeinde, darüber macht man sich sogar in Trinkliedern lustig. Keine Fastnachtsveranstaltung, in der man nicht ein paar Sprüche über den macht, dem Gottes Reich wichtiger ist als alles. Wir würden heute vielleicht sagen: Der Erzähler macht sich wegen der Gemeinde zum Affen.

Kein Gespräch mit den Gegnern

Nun diskutiert der Erzähler aber nicht mit denen, die sich über ihn lustig machen.

Er versucht nicht, die Spaßvögel mit Argumenten zu überzeugen.

Es ergeht keine Bitte an die Lästerer, dass sie aufhören soll; dass sie ihn in Ruhe lassen sollen. Die Lösung des Problems wird nicht von den kirchlich orientierten Leuten erwartet.

Ps 69,14-18

14 Ich aber <richte> mein Gebet an dich, HERR, zur Zeit des Wohlgefallens. Gott, nach der Größe deiner Gnade, erhöre mich durch die Treue deiner Hilfe!

 15 Ziehe mich heraus aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke! Lass mich gerettet werden von denen, die mich hassen, und aus den Wassertiefen!

 16 Lass die Flut des Wassers mich nicht fortschwemmen und die Tiefe mich nicht verschlingen; und lass die Grube ihren Mund nicht über mir verschließen!

 17 Erhöre mich, HERR, denn gut ist deine Gnade; wende dich zu mir nach der Größe deiner Erbarmungen!

 18 Und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knecht, denn ich bin bedrängt; erhöre mich eilends!

Wird Gott den Erzähler aus dem Schlamm ziehen und ihn vor den Wassermassen bewahren? Bleiben Sie dran!

Warum Gott ihn hören soll

Psalm 69 Vers 5Nun begründet er Gott gegenüber noch, warum Gott ihn retten soll. Weil Gott nämlich alles weiß, und weil der Erzähler von anderen nur Schaden zu erwarten hat. Der Erzähler hat keine andere Hilfe als Gott.

Ps 69,19-22

19 Nahe dich meiner Seele, erlöse sie; erlöse mich wegen meiner Feinde!

20 Du, du hast meine Schmähung erkannt und meine Schmach und meine Schande; vor dir sind alle meine Bedränger.

21 Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und <es> ist unheilbar; und ich habe auf Mitleid gewartet — aber <da war> keins; und auf Tröster, aber ich habe keine gefunden.

22 Und sie gaben mir zur Speise Gift, und in meinem Durst tränkten sie mich mit Essig.

Das mit dem Essig wird dann auch bei Jesu Kreuzigung zitiert.

Aber irgendwas muss jetzt geschehen. Der Erzähler kann so nicht weiterleben. Die Leidensfähigkeit eines Menschen ist irgendwann auch mal zu Ende.

Vorschläge für Gottes Handeln

Jetzt schafft der Erzähler es, von sich selbst wegzuschauen. Nicht mehr die eigene Beziehung zu Gott steht jetzt im Vordergrund, sondern die Beziehung der anderen zu Gott. So macht der Erzähler jetzt ein paar Vorschläge, was Gott mit den anderen Leuten machen soll.

Ps 69,23-29

23 Es werde ihr Tisch vor ihnen zur Falle, und den Sorglosen zum Fallstrick!

Die sollen also an ihrem eigenen Essen ersticken.

 24 Lass dunkel werden ihre Augen, dass sie nicht sehen; und lass beständig ihre Hüften wanken!

Das sind Lähmungserscheinungen in den Beinen. Die können nicht mehr gerade stehen.

 25 Schütte über sie aus deine Verwünschung, und deines Zornes Glut soll sie erreichen!

 26 Verödet sei ihr Lagerplatz, in ihren Zelten sei kein Bewohner!

 27 Denn den du geschlagen hast, haben sie verfolgt, und vom Schmerz deiner Verwundeten erzählen sie.

Es ist nicht gemeint, dass Gott den Erzähler bestraft hat. Der Erzähler ist dadurch geschlagen, dass er zu dieser Zeit an dieser Stelle steht. Weder Jeremia noch Jesus sind von Gott bestraft worden, aber natürlich kann man sie als Opfer von Gottes Plänen bezeichnen.

 28 Füge Schuld zu ihrer Schuld, und lass sie nicht hineinkommen in deine Gerechtigkeit!

 29 Sie sollen ausgelöscht werden aus dem Buch des Lebens und nicht eingeschrieben werden mit den Gerechten!

Nun mag man alle diese Wünsche des Erzählers für nicht besonders christlich halten. Allerdings galt Jesus seine Bitte „Vater, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34) den römischen Soldaten und nicht zwangsläufig den Gläubigen, die ihn abservieren wollten.

Egal, wie wir die Wünsche des Erzählers bewerten: Am Ende ist es natürlich genau das, was geschehen wird. Man wird wohl selbst bei wohlwollendster Betrachtung nicht davon ausgehen können, dass Gott diejenigen, die seinen Freunden solches Leid zufügen, in der Buch des Lebens einträgt – direkt neben den Namen derer, die sie so schlecht behandelt haben.

Nützt nichts

Allerdings nützt es dem Erzähler nichts, wenn es den kirchlichen Leuten schlecht geht:

 30 Ich aber bin elend, und mir ist wehe; deine Rettung, Gott, bringe mich in Sicherheit!

Es wird mir nicht besser gehen, nur weil ich weiß, dass es den auch schlecht geht.

Es muss also eine andere Strategie her, um das Problem zu lösen.

Wird Gott den Erzähler retten und in Sicherheit bringen, und wie wird er es tun? Bleiben Sie dran!

Gott hat noch immer nicht gehandelt.

Der Erzähler trifft jetzt eine Entscheidung. Weil er nämlich erkannt hat, dass die Freude des Menschen für Gott ziemlich wichtig ist. Gott hat den Menschen berufen, damit der Mensch sich freut.

Ps 69,31-37

31 Loben will ich den Namen Gottes im Lied und ihn erheben mit Dank.

 32 Denn es wird dem HERRN wohlgefälliger sein als ein Stier, ein Opferstier mit Hörnern und gespaltenen Hufen.

 33 Die Sanftmütigen haben es gesehen, sie werden sich freuen; die ihr Gott sucht, euer Herz soll leben!

Was die Sanftmütigen gesehen haben, ist dass Gott es lieber hat, wenn man Gott lobt und dankt als wenn man ein Opfertier bringt. Denn ein Tier opfern kann man ohne eine innere Haltung; beim Loben und Danken ist es schwieriger, das ohne innere Haltung zu tun.

 34 Denn der HERR hört auf die Armen, und seine Gefangenen verachtet er nicht.

Und jetzt weitet der Erzähler den Jubel noch ein bisschen aus: Nicht nur er selbst jubelt, sondern:

 35 Ihn sollen loben Himmel und Erde, die Meere, und alles, was in ihnen wimmelt!

Der Grund und der Anlass

Und der Grund dafür, dass vom Meer bis zum Regenwurm alle Gott loben sollen, ist dieser:

 36 Denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen; und sie werden dort wohnen und es besitzen.Der 69. Psalm

Die Gemeinde hat also Zukunft.

Die Gemeinde wird bestehen bleiben.

Und die Gemeinde wird keine Leihgabe von irgendwem sein, und sie wird nicht vom Teufel geduldet sein, weil er ohnehin gewonnen hat. Sondern die Gemeinde wird Besitz der Gläubigen sein. Ihr Eigentum. Damit sind die Gläubigen dort auch die Chefs.

37 Die Nachkommen seiner Knechte werden es erben; und die seinen Namen lieben, werden darin wohnen.

Die Gemeinde wird sich am Ende in den Händen der richtigen Leute befinden. Jesus hat sich ja mal beklagt Mt 11,12

12 Aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttuende reißen es an sich.

Aber die Gewalttäter werden letzten Endes keinen Erfolg haben. Die Gemeinde wird in den Besitz der Gottesfürchtigen fallen, und das kann keiner verhindern, und diejenigen, die Gott lieben, die werden tatsächlich in der Gemeinde wohnen dürfen.

Das ist ja nicht selbstverständlich. Das Bemühen, die Kinder Gottes aus der Gemeinde zu vertreiben, weil sie irgendwelchen Machtbestrebungen oder irgendwelchen Lieblingsideen im Wege sind, dieses Bemühen ist 3000 Jahre alt.

Aber dass dieser Kampf seit 3000 Jahren tobt, zeigt, dass die Angreifer nicht gewinnen können. Sie haben in 3000 Jahren nicht gewonnen, und sie werden in alle Ewigkeit nicht gewinnen.

Resümee

Nein, über die Gemeinde Gottes kann man sich nicht immer freuen.

Das weiß dieser Psalm.

Das wissen die Sendschreiben in der Offenbarung.

Das musste Jesus erleben, der mit der Führung des Gottesreiches massiv aneinander geriet.

Das hat man in Europa im Mittelalter erlebt.

Die Gemeinde ist oft nicht der Freund der Gläubigen.

Aber Gott ist immer der Freund der Gläubigen.

Über die Umstände kann man sich oft nicht freuen. Aber über Gott kann man sich immer freuen, und man hat auch immer Grund dazu.

Denn selbst wenn es so aussieht, als habe die Gemeinde Gott aufgegeben – Gott gibt die Gemeinde nicht auf.

Es kann sein, dass Gott im Moment nicht macht, was ich mir wünsche.

Aber er wird es in Zukunft machen.

Und die Gemeinde ist vielleicht im Moment ganz entsetzlich.

Aber Gott ist Gott.

Und Gott hat die Gemeinde für ewig geplant.

Und selbst wenn das Worst-Case-Szenario eintritt: Am Ende wird das Best-Case-Szenario stehen.

Denn das Ende mit Gott ist immer der Sieg, ist immer der Segen, ist immer das Licht.

Wenn Sie bisher drangeblieben sind

Nachdem Sie den Psalm nun zuende gelesen haben, werden Sie vermutlich festgestellt haben, dass Gott überhaupt nichts gemacht hat.

Die Gemeinde ist immer noch in dem gleichen katastrophalen Zustand wie vorher.

Die Gegner des Gläubigen sind immer noch gemein. Gott hat die Gegner weder zurechtgewiesen noch bestraft.

Die äußeren Probleme des Erzählers sind immer noch die gleichen.

Aber Gott hat den Erzähler aus dem Schlamm herausgezogen. Der Erzähler droht nicht mehr zu ertrinken.

Gott hat äußerlich nichts gemacht. Aber er hat den Erzähler etwas sehen lassen.

Gott hat ihm eine andere Perspektive angeboten.

Ob die andere Sichtweise damit zusammenhängt, dass der Erzähler beschlossen hat, Gott zu loben unabhängig von seinen Umständen; oder ob Gott ihm einfach so zu neuer Sichtweise verholfen hat, das wissen wir nicht.

Aber am Ende des Psalms ist der Erzähler aus dem Schlamm draußen. Und das war ja das, um was es ihm ging.

Oder um es neutestamentlich auszudrücken: Gott hat nicht das Böse beseitigt. Aber er hat die Macht des Bösen über die Gläubigen beseitigt.

Gott hat diejenigen, die eigentlich gegen Gott sind und die seinen Willen missachten, nicht von der Platte gefegt. Aber er hat dafür gesorgt, dass diese Leute die anderen nicht mehr im Schlamm versinken lassen können.