Psalm 139 - der pharisäischte Psalm von allen.
Dieser Artikel erklärt Ihnen, warum der Autor so schön schreibt, aber am Ende Zweifel an seinem eigenen Urteil und damit an seiner eigenen Erkenntnis hat. Und warum Sie ganz sicher unrecht haben, wenn Sie über einen Aspekt Gottes genau Bescheid wissen.
Psalm 139,1
1Dem Chorleiter. Von David. Ein Psalm.
Damit steht fest, dass unser Text kein spontanes Werk ist, dass jemand zwischen Tagesschau und heute Journal mal eben schnell aus einer Laune heraus ratzfatz aufgeschrieben hat.
Das Ding war für den Gottesdienst konzipiert, das bekam der Chorleiter in die Hände. Und wenn der es nicht für würdig erkennt, wird es nicht vorgetragen.
Das, was jetzt kommt, ist also ein Stück Literatur, wo einer die ersten drei Versionen weggeworfen hat, weil sie nicht gut genug waren, und hier ist nun die vierte Version, und mit der war der Autor dann endlich zufrieden, und die wurde dann im Gottesdienst benutzt. (Oder so ähnlich.)
Erste Unbegreiflichkeit
Der mengenmäßige Hauptteil des Psalms besteht aus vier unbegreiflichen Angelegenheiten. Die erste ist, dass Gott das Verhalten des Autors nicht nur sieht, sondern auch bewertet. Und es eben auch zuverlässig bewerten kann, weil er alles, wirklich alles bezüglich des Lebens des Autors weiß.
Datenschutz sieht anders aus.
HERR, du hast mich erforscht und erkannt.
2Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du verstehst mein Trachten von fern.
3Mein Wandeln und mein Liegen – du prüfst es. Mit allen meinen Wegen bist du vertraut.
4Denn das Wort ist noch nicht auf meiner Zunge – siehe, HERR, du weißt es genau.
5Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, du hast deine Hand auf mich gelegt.
6Zu wunderbar ist die Erkenntnis für mich, zu hoch: Ich vermag sie nicht zu erfassen.
Der Autor checkt gar nichts mehr. Er kann die Tatsache, dass Gott alles erkennt, als solche akzeptieren. Aber wie Gott das macht, das ist ihm vollkommen unklar.
Unklar bleibt auch Gottes Motivation. Warum handelt Gott so?
Und das ist ja irgendwie das Problem hier: Nur Gott handelt bei dieser ersten Unbegreiflichkeit. Es gibt kein Bemühen des Menschen. Es gibt auch keinen Willen des Menschen. Der Mensch wird nicht gefragt.
Gott handelt aus eigenem Antrieb an mir, aber so, dass ich weder verstehe, wie er das macht, noch warum er das macht.
Die erste Unbegreiflichkeit ist also, dass Gott mein gesamtes Leben erkennen kann und prüfen kann, so dass ich folglich überhaupt kein Geheimnis vor Gott haben kann.
Zweite Unbegreiflichkeit
Die zweite Unbegreiflichkeit handelt von Gottes Allgegenwart. Dass jeder Bereich der Welt, auch der in irgendwelchen Paralleluniversen, voll ist mit Gott.
7Wohin sollte ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Angesicht?
8Stiege ich zum Himmel hinauf, so bist du da. Bettete ich mich in dem Scheol, siehe, du bist da.
9Erhöbe ich die Flügel der Morgenröte, ließe ich mich nieder am äußersten Ende des Meeres,
10auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen.
11Und spräche ich: Nur Finsternis möge mich verbergen und Nacht sei das Licht um mich her:
12Auch Finsternis würde vor dir nicht verfinstern, und die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie das Licht.
Weil Gott überall ist und es nicht einen einzigen gottfreien Raum auf der Welt gibt, darum kann Gott auch jeden Teil meines Leben sehen und prüfen. Die Unbegreiflichkeiten bauen aufeinander auf: Gott kennt mein gesamtes Verhalten, weil er immer überall ist – und jetzt geht es weiter: Er war sogar bei meiner Entstehung dabei. Er kann in den Mutterleib hineinschauen, was für uns heute mit MRT und Ultraschall nichts Besonderes mehr ist, aber damals ein völlig undenkbarer Vorgang war.
Dritte Unbegreiflichkeit
13Denn du bildetest meine Nieren. Du wobst mich in meiner Mutter Leib.
14Ich preise dich darüber, dass ich auf eine erstaunliche, ausgezeichnete Weise gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke, und meine Seele erkennt es sehr wohl.
15Nicht verborgen war mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewoben in den Tiefen der Erde.
16Meine Urform sahen deine Augen. Und in dein Buch waren sie alle eingeschrieben, die Tage, die gebildet wurden, als noch keiner von ihnen da war.
17Für mich aber – wie schwer sind deine Gedanken, Gott! Wie gewaltig sind ihre Summen!
18Wollte ich sie zählen, so sind sie zahlreicher als der Sand. Ich erwache und bin noch bei dir.
Es geht immer noch darum, dass der Autor überhaupt nicht versteht, wie Gott handelt, warum Gott handelt, und folglich auch nicht, welche Konsequenzen sich aus diesem absoluten Sein Gottes ergeben.
Vierte Unbegreiflichkeit
Die vierte Unbegreiflichkeit besteht daraus, dass es angesichts eines solchen Gottes Gottlose geben kann.
Der Autor schlägt sich jetzt ganz auf Gottes Seite. Er wird uneingeschränkt solidarisch und ergeben. Das ist wie bei Soldaten im Krieg: Sie müssen sich zwangsläufig mit den Zielen ihrer Vorgesetzten solidarisieren; sie müssen mit ihren Vorgesetzten an einem Strang ziehen.
Auch in anderen Lebenszusammenhängen kennen wir das, dass man sich mit den Vorstellungen eines Vorbildes eins macht; dass man sich vorbehaltlos auf die Seite der Macht stellt, die über einen herrscht.
Als Fan von Bayern München hasst man die Fans von Borussia Dortmund. Nicht, weil man persönlich irgendwas gegen die hat – man kennt die ja gar nicht. Sondern nur aus dem Grund, dass sie Fans von Borussia Dortmund sind.
Und weil wir hier Literatur haben, die etwas deutlich machen will, darum zeichnet der Autor jetzt vielleicht ein wenig übertrieben. Wobei, naja, man könnte sich das vielleicht auch aus dem Munde eines Pharisäers vorstellen.
19Mögest du, Gott, den Gottlosen töten! Ihr Blutmenschen, weicht von mir!
20Sie, die mit Hinterlist von dir reden, vergeblich die Hand gegen dich erheben!
21Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und sollte mir nicht ekeln vor denen, die gegen dich aufstehen?
22Mit äußerstem Hass hasse ich sie. Sie sind Feinde für mich.
Nun gab es in den Anfängen des Staates Israel durchaus ein paar Vorfälle, wo Gott die Vernichtung der Feinde der Israeliten angeordnet hatte. Das letzte große Ereignis zu diese Thema war die Tötung der Baalspropheten auf dem Berg Karmel.
Allerdings gab es genauso viele Fälle, wo Gott Anweisung gegeben hatte, die Gegner in Ruhe zu lassen und ihnen aus dem Weg zu gehen und sie nicht zu bekämpfen.
Und natürlich gibt es in den Propheten ein paar Aussagen über die Gottlosen, da ist man froh, dass man kein Gottloser ist.
Eigene Entscheidung
Aber selbst wenn Gott einen Menschen hassen sollte – es gibt kein Gebot, dass ein Mensch einen anderen Menschen hassen soll.
Dass man die Kanaaniter aus dem Land vertreiben und im Zweifelsfall sogar umbringen sollte, hatte etwas mit Gehorsam gegenüber Gott zu tun. Aber nichts mit den eigenen Gefühlen gegenüber den Kanaanitern. Es gab kein Gebot, dass man den Kanaanitern gegenüber schlechte Gefühle entwickeln sollte.
Es wäre auch etwas seltsam, wenn Gott, der das Glück der Menschen will, die Menschen nun zum Hassen auffordert, was dem Glück eindeutig entgegensteht.
Die Verurteilung
Der Autor merkt jetzt, dass diese totale Verurteilung der Gottlosen nur seine eigene Entscheidung war.
Es gab keine Aufforderung von Gott dazu, und es gibt auch keine Aussage von Gott, dass er das gut findet, wenn man den Gottlosen mit Anlauf hasst.
Der Autor hat in vorauseilendem Gehorsam eine Haltung eingenommen, von der er dachte, dass sie zu einer Loyalität gegenüber Gott dazugehört. Weil sie ja zu fast jeder wahren Loyalität dazugehört.
Und jetzt erschrickt er und merkt, dass das so nicht geht.
23Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz. Prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
24Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Weg!
Erste Unklarheit: Ich weiß nicht
Es ging in den ersten drei Unbegreiflichkeiten ja nicht darum, dass Gott alles weiß und überall ist. Sondern es ging darum, dass der Autor das nicht verstehen kann.
Und jetzt ist hier der Gottlose, und der versteht Gott auch nicht. Zwar auf einem anderen Niveau – der Gottlose kann die Existenz Gottes als solche nicht verstehen – aber ist es wirklich richtig, dass ich, der ich so wenig verstehe, mich als Richter verstehe über jemanden, der nur noch weniger versteht als ich?
Zweite Unklarheit: Es regnet
Gott hätte den Gottlosen längst töten können, wenn er ihn so arg hassen würde. Statt dessen stellt Jesus dann später mal fest, dass Gott es auch für die Gottlosen regnen lässt (Mt 5,45). Und auch wenn es, besonders von den Propheten, einige heftige Aussagen gegen die Gottlosen gibt, scheint Gottes Verhältnis zu dieser Personengruppe doch irgendwie nicht so ganz klar zu sein.
Gott hätte den Gottlosen auch bekehren können. Ihm sozusagen mit Gewalt erscheinen. Sich dem Gottlosen so offenbaren, dass der keine Chance mehr hat, gottlos zu sein. Das macht Gott aber auch nicht.
Gott bekehrt den Gottlosen nicht, er tötet ihn auch nicht: Gottes Verhältnis zu den Gottlosen ist eine weitere Unbegreiflichkeit, die ich nicht verstehe.
Aber wenn ich sie nicht verstehe, wäre es wahrscheinlich besser, wenn ich den Mund halte.
Hinzu kommt ja noch, dass die ersten drei Unbegreiflichkeiten, welche der Autor über sich selber gesagt hat, nämlich
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dass Gott alle Handlungen und Gedanken des Menschen kennt
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dass Gott immer überall ist und man der Anwesenheit Gottes nicht entkommen kann
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dass Gott auch über die Entstehung des vollständigen Menschen aus fast nichts vollständig informiert ist und genau versteht, wie das funktioniert und also Dinge von mir weiß, die ich selber nicht weiß
… dass also diese drei Unbegreiflichkeiten genauso für den Gottlosen gelten. Gott kennt auch die Handlungen und Gedanken des Gottlosen; auch der Gottlose kann Gott nicht entkommen; und auch vom Gottlosen weiß Gott mehr als der Gottlose selbst.
Irgendwie sitzen der Gottlose und ich im selben Boot.
Und da soll Gott jetzt ihn töten und mich segnen?
Dritte Unklarheit: Der Wille Gottes
Es war ja ein Problem der Pharisäer, dass sie genau wussten, was der Wille Gottes war, dabei allerdings falsch lagen. Der Autor dieses Psalms hat rechtzeitig die Notbremse gezogen und gemerkt, dass er den Willen Gottes scheinbar doch nicht kennt oder nicht versteht.
Aber seit der Einnahme des gelobten Landes war klar, dass die Menschen stellvertretend für Gott handeln sollten. Sie sollten so an den Menschen handeln, wie Gott an den Menschen handeln würde.
Um dieses Gebot erfüllen zu können, müsste man aber natürlich wissen, wie Gott denn nun an den entsprechenden Menschen handeln würde, und eine Stufe vorher: Wie Gott über diese Menschen denkt.
Man neigt immer wieder dazu und hat das auch in Israel getan, Gott vor allem als den Schöpfer und als den Herrscher über diese Schöpfung zu verstehen. Da wird aus Gott dann schnell ein despotischer König, und die Reaktion der Menschen auf Gott wird dann zu einer Art gesetzlichem Gehorsam. Schließlich will man keinen Ärger.
Natürlich ist Gott auch Schöpfer und Herrscher, aber vielleicht ist er beides nur geworden, um sein eigentliches Wesen leben zu können. Vielleicht sind der Schöpfer und der Herrscher nur ein Mittel zu dem Zweck, ein liebender und ein barmherziger und folglich auch ein geliebter sein zu können.
Die Quintessenz
Am Ende bleibt, dass der Mensch eigentlich nicht wissen kann, wie Gott ist und was Gott will. Gott ist einfach zu groß, als dass man ihn zu einem Erkenntnisgegenstand machen könnte.
Das würde dann aber auch heißen, dass man eigentlich nie weiß, wie man richtig leben und denken soll.
Die Bibel hilft einem da auch nicht weiter, sonst hätte der Autor sich an Psalm 1 angelehnt und beschlossen, über Gottes Gesetz nachzudenken Tag und Nacht.
Mit Jesus sind wir zwar in der Erkenntnis Gottes einen Schritt weiter, aber man könnte natürlich auch sagen, durch die mit Jesus verbundene Freiheit ist es eigentlich noch komplizierter geworden.
Darum endet der Psalm mit der Bitte, dass Gott den Autor auf ewigen Wegen leiten möge.
Und damit ist der Psalm nicht messianisch, denn er beschreibt nicht die Notwendigkeit des Messias, sondern er beschreibt die Notwendigkeit des Heiligen Geistes.
Wenn wir an Gottes Stelle handeln sollen, Gott aber gar nicht verstehen können, dann brauchen wir eben direkte Anweisungen.
Die Apostelgeschichte und die Briefe kennen jede Menge Beispiele, wie das geht.
Und darum ist es auch gut, dass Gott
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überall ist
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mehr über mich weiß als ich selber
denn sonst könnte er ja keine brauchbaren Anweisungen geben.