Psalm 102 – Ein überflüssiger Psalm

Dieser Artikel beschreibt, warum der Psalm 102 mittlerweile überflüssig ist und warum man ihn genau deshalb unbedingt lesen sollte.

Eigentlich ist dieser Psalm ja eine Gebrauchsanweisung.

Er sagt nämlich, wie man „Gebet“ benutzen soll, wenn man ein verzagender Elender ist.

Der Psalm ist also ein Formular. Ein Vordruck. Eine Vorlage.

Was natürlich schon an sich und allein eine Frechheit ist.

Schließlich kann ich ja beten, was ich will.

Da legen die Gläubigen viel Wert drauf: Dass man alles beten kann.

Dass man Gott alles sagen darf.

Und so weiter.

Der Autor dieses Psalms ist anderer Meinung. Er hat vermutlich schon zu viele missratene Jammergebete gehört, und jetzt ist ihm die Hutschnur gerissen, und er gibt eine Anleitung heraus.

Das allgemeine Elend

Weil das Ganze eine Vorlage für alle Arten von Elend sein soll, darum nimmt der Autor kein genau definierbares Elend wie eine bestimmte Krankheit oder ein spezieller Schicksalsschlag, sondern er nimmt ein allgemeines Elend.

Sozusagen das Elend an sich.

Und er nimmt die höchste Form von Elend, nämlich dass der Elende weiß, dass er bald sterben wird. Dass zumindest die Gefahr besteht, dass dieses Ereignis in Kürze eintritt. Denn die Vorlage soll ja auf alle Formen von Elend anwendbar sein, also macht der Autor die Vorlage recht extrem, damit niemand sagen kann, sein Elend sei so groß, da könne er diese Vorlage nicht benutzen.

Und so haben wir von Vers 4 bis Vers 12 eine umfassende Beschreibung des allgemeinen aber im Einzelfall eben doch sehr persönlichen Elends, und diese Beschreibung ist an Gott gerichtet. Gott soll wissen, wie das Elend des Betenden aussieht, und Gott soll dieses Elend beseitigen. Und zwar schnell, denn sonst ist der Elende tot.

Das liest sich im Grunde wie die anderen Klagetexte in der Bibel.

Die Sünde oder eben nicht.

Weil der Text aber eine Vorlage und ganz allgemein sein soll, darum spricht der Autor nicht von irgendwelchen speziellen Sünden, die er begangen hat. Es gibt hier keine Reue und kein Schuldbekenntnis, denn die Vorlage geht davon aus, dass der Benutzer keine besonders bemerkenswerten Sünden begangen hat. Und dass deshalb das Elend, das den Betenden getroffen hat, nicht eine Strafe für irgendwelche bösen Taten ist.Psalm 102

Trotzdem geht die Vorlage davon aus, dass das Elend seine Ursache in Gottes Zorn hat. „Gott hat mich hingeworfen“, klagt die Vorlage (Vers 11).

Wir wissen nun aus langjähriger Erfahrung, dass Leid und Elend ungerecht in ihrer Verteilung sind, und dass es eigentlich überhaupt kein Maß für die Rechtmäßigkeit von Elend gibt.

Die Krebserkrankung trifft mich unbegründet.

Dass ich mit der Behinderung geboren wurde, ist Zufall.

Dass ich in einen Autounfall hineingerate oder in einem Kriegsgebiet lebe oder in einer Zeit mit sehr geringer Lebenserwartung und hoher Kindersterblichkeit geboren werde, das ist nicht berechenbar, nicht begründbar. Das ist schlicht Zufall und hat keine Ursache in meinem Verhalten oder im Verhalten meiner Vorfahren.

Der Zorn Gottes, der sich in solchen Dingen zeigt, ist nicht ein Zorn über mein persönliches Verhalten, sondern der Zorn über die Sünde überhaupt. Der Tod ist der Sünde Sold, und damit ist auch alles das, was weniger schlimm als der Tod ist, immer noch Sold der Sünde.

Seit Adam und Eva trifft der Zorn Gottes die Schöpfung wegen der darin vorhandenen Sünde. Aber der Zorn Gottes ist nicht zielgerichtet, er ist nicht individuell, sondern seine Auswirkungen sind zufällig. Das beklagt die Bibel ja auch immer wieder: Dass es den Bösen vergleichsweise gut geht und den Guten so schlecht.

Das Unpassende.

Zwischen Vers 12 und Vers 13 erkennt der Psalm, dass hier irgendwas nicht passt.

Wir haben einen ewigen und unveränderlichen Gott. Und dieser Gott holt die Israeliten aus Ägypten, gibt ihnen ein gelobtes Land und hat in der Mitte dieses Landes einen Berg, auf dem Gott wohnt. Gott kommt also zu den Menschen, und das Ergebnis ist, dass die Menschen immer noch leiden wie die Schweine und sterben wie die Fliegen.

Gott hat den Menschen geschaffen als das höchste Wesen im Weltall, und diese Menschen gehen schneller zugrunde als die Steine, die ja viel niedriger sind in ihrer Stellung gegenüber Gott.

Und am Ende geht alles zugrunde, auch die Planeten und der Raum zwischen den Planeten.

Und das soll dann der Sinn der Schöpfung gewesen sein, dass alles kaputt geht? Die Menschen schneller, und die Steine langsamer?

Und das soll jetzt der Sinn der Befreiung aus Ägypten, des Wohnens Gottes auf dem Berg Zion sein, dass am Ende nichts übrig bleibt, und Gott ist dann wieder allein? Und die Zeit bis dahin verbringen wir mit Leid und Elend und viel Unerträglichem?

Des Textes Schlussfolgerung

Der Psalm kommt somit zu der Schlussfolgerung, dass wenn das alles so ist, dass es dann so etwas wie „das Heil der Welt“ geben muss.

Eigentlich wollte der Autor ja nur für sein eigenes Heil beten, für die Beseitigung seines eigenen Elends und seines eigenen zu erwartenden Untergangs.

Aber eigentlich brauchen wir etwas anderes.

Wir brauchen, dass der Tod aufhört. Und die vielen Vorstufen des Todes ebenfalls.

Und man muss davon ausgehen, dass das nicht nur das Interesse der Menschen ist, sondern dass das auch das Interesse Gottes ist.

Denn all das, was Gott bis zu diesem Zeitpunkt, wo der Autor schreibt, getan hat, lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass am Ende Unsterblichkeit und ein Gott angemessenes, dauerhaftes Leben stehen werden.

Weil Gott das will.

Weil Gott eine Schöpfung will, die ihm angemessen ist.

Und eine Schöpfung, in der das meiste schrecklich ist und in der alles zerbröselt, ist eines ewigen Gottes nicht angemessen.

Botschaft für die neue Generation.

Der 102. PsalmDer Autor hat allerdings verstanden, dass das mit dem Heil für die Welt zu seinen Lebzeiten nichts mehr wird. Darum schreibt er ausdrücklich für kommende Generationen (Vers 19), für ein neues Volk.

Denn diese neue Generation braucht solche Gebete wie diesen Psalm nicht mehr zu beten. Die Vorlage wird dann nichts mehr taugen.

Gut, könnte man denken, das werden die dann ja selber merken. Wenn das Heil der Welt da ist, wenn der Tod besiegt ist, das werden die doch wohl mitbekommen.

Aber offenbar hat Gott dem Psalmschreiber einen Hinweis gegeben, dass der Gedanke, dass  das Heil der Welt das Denken und Leben der Menschen verändern wird, sicher schön gewünscht ist, aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Und soviel war für den Psalmschreiber klar: wenn das Heil der Welt da wäre, dann bräuchte man solche Gebete, wie der Psalm es in der ersten Hälfte durchführt, nicht mehr zu beten.

Wenn das Heil der Welt da wäre, dann wäre natürlich auch das Heil des Einzelnen da.

Und Jesus behauptet steif und fest, wenn er mal auferstanden ist, dann ist es da. Und Paulus schreibt seine Briefe auch so, als wenn der Traum des Psalmschreibers schon Wirklichkeit sei.

Wenn das Heil der Welt da wäre

Der Psalmschreiber dachte: wenn das Heil der Welt da wäre, dann wäre der Tod, der hier das größte Problem des Psalms ist, erledigt. Und Paulus hat diesen Psalm offenbar gelesen, denn er sagt 1. Korinther 15,55

55 »Wo ist, Tod, dein Sieg? Wo ist, Tod, dein Stachel?«

Und natürlich dachte der Psalmschreiber, wenn das Heil der Welt da ist, dann müssten die Menschen doch irgendwie wunschlos glücklich sein. Wie naiv! Natürlich schreibt vor allem Johannes immer wieder von der perfekten Freude der Gläubigen (Jh 16,22+24; Jh 17,13;), aber die Gläubigen verstehen das doch eher als Metapher denn als etwas, was gründlichen Einfluss auf ihr Leben haben kann.

Ach, vermutlich wäre der Psalmschreiber enttäuscht, wenn er miterleben müsste, dass das Heil der Welt da ist und man die Klagerei aus dem ersten Teil des Psalms eigentlich sein lassen könnte – und Paulus schreibt ja auch ausdrücklich: 1. Korinther 3,22

22Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges; alles ist euer,

Und das ist ja das, was auch der Psalmschreiber erhoffte: Psalm 102,20–21

20Denn der HERR hat herniedergeblickt von der Höhe seines Heiligtums, er hat herabgeschaut vom Himmel auf die Erde,

21um zu hören das Seufzen des Gefangenen, um zu lösen die Kinder des Todes,

Ach, der Psalmschreiber wäre sich nicht zufrieden, wenn er sähe, wie wenig frei die Generation ist, für die er geschrieben hat - obwohl Jesus ja auch gesagt hat: Die Wahrheit wird euch frei machen (Jh 8,32).

Und wie unterdrückt die Christen sind, wo doch auch Paulus schon gefragt hat: Wenn Gott für uns ist, wer kann dann gegen uns sein?

Schlusswort

Der Psalm ist als Entwurf für Gebete also hinfällig. Man braucht nicht mehr für das Heil der Welt zu beten, es ist nämlich bereits Realität.

Aber damit der Psalmschreiber nicht ganz umsonst gearbeitet hat, könnte man vielleicht ein bisschen mehr aus dem Heil der Welt machen. Denn wenn so wenig Erlösung da ist, dann ist ja letztlich auch Jesus umsonst gestorben.

Wenn nun der Psalm als Gebetsentwurf hinfällig ist, wozu steht er dann noch in der Bibel?

Wenn Sie nicht drauf kommen, lesen Sie einfach diesen Artikel noch einmal von vorne.

Der Psalm steht noch immer in der Bibel, um darauf hinzuweisen, dass er selbst jetzt überflüssig ist.