Psalm 57,4 am Bedarf vorbei
In diesem Psalm sitzt David in einer Höhle und versteckt sich dort vor Saul, der ihn umbringen will.
Das dürfte eine der extremsten Situationen sein, in die man im Leben so geraten kann: Dass man sich in einer Höhle verstecken muss, weil man sonst ermordet wird.
Sicher, Soldaten im Krieg sind in einer ähnlichen Lage.
Ist trotzdem nicht schön.
Aber wenn ich schon in so einer Lage wäre und in einer Höhle säße, und jeder Tag könnte der letzte sein, dann würde ich mir doch von Gott etwas brauchbares wünschen:
- Eine funktionierende Kalaschnikow mit viel Munition
- Eine dichte Nebelwand, so dass Saul sich nicht mehr auskennt, nichts mehr sieht, sich verläuft, auf jeden Fall: David nicht sehen kann.
- Einen Attentäter, der den amtierenden König aus beliebiger Distanz, aber gründlich.
Nicht so David. Er bittet Gott in Vers 4:
Gott sende seine Gnade und Wahrheit; er rette meine Seele.
Gnade ist hier (wie meistens in der Bibel) nicht als Gefühl von Mitleid gemeint, sondern als hoheitlicher Akt. Wenn der Bundespräsident die Terroristen der RAF begnadigt, muss er kein Mitleid mit denen haben. Er kann eine Begnadigung aus sachlichen Erwägungen für angemessen halten.
Und die Bitte um Wahrheit meint nicht, dass David bittet, dass ab jetzt niemand mehr lügt, sondern dass Gott sich dem David so weit irgend möglich offenbare. Dass die letzte Realität, die hinter allem steht, dass die mindestens in dieser Höhle sichtbar wird.
Aber wie gesagt: Mir wäre in der Höhle unter Lebensgefahr etwas anderes eingefallen, um das ich Gott gebeten hätte.
Aber Gnade und Wahrheit sind die beiden Komponenten, unter denen Gott sich Menschen nähert. Auch die Herrlichkeit Jesu war (laut Johannes 1,14) voller Gnade und Wahrheit.
Gnade ist die Tatsache, dass Gott sich herablässt, dass er also tatsächlich kommt, und Wahrheit ist, dass man sich Gott nicht vorstellen muss oder sich etwas über Gott denken muss, sondern dass man ihn so erlebt, wie er wirklich ist. Nicht als Einbildung, nicht als Fata Morgana, nicht als Wort aus der Bibel, das man dann halt glauben muss.
Begründung
Warum will nun David nicht die Kalaschnikow, die Nebelwand oder den Attentäter? Warum will er, dass Gott selbst zu ihm kommt?
Wenn Gott zu mir kommt, dann kann ich nicht mehr verloren gehen. Egal, wie man „verloren gehen“ definiert, es geht dann nicht mehr.
Denn wenn Gott wirklich kommt, dann gibt es um mich herum nichts anderes mehr als Gott. Da passt dann nichts anderes mehr hin. Da hat kann sich keine andere Macht mehr entfalten.
Und so sagt David das auch zum Schluss: Ps 57,11
11 Denn groß bis zum Himmel ist deine Gnade, und bis zu den Wolken deine Wahrheit.
Da ist dann in der Tat für nichts anderes mehr Platz.