Psalm 77 – die seltsamen Formen der Freiheit
Dieser Artikel beschreibt das Problem, das der Autor von Psalm 77 hat, wie er die Lösung für sein Problem findet und warum der Psalm so abrupt endet.
1 Dem Chorleiter. Nach Jedutun. Von Asaf. Ein Psalm.
Damit wissen wir schon, dass dieses kein Privatpsalm ist. Wir lesen nicht einen privaten Tagebucheintrag, sondern einen Text, der extra für den Gottesdienst geschrieben wurde.
2 – Das Schlechtgehen
Dem Autor geht es schlecht. Die genauen Umstände werden nicht genannt, weil es vermutlich egal ist, ob es sich um ein militärisches oder räuberisches Ereignis handelt, um Krankheit oder Tod, um Armut oder Hunger, um Ärger oder Probleme, um Menschen oder Tiere oder Naturereignisse. Gott macht auf jeden Fall nicht, was man von ihm erwartet.
Dem Autor geht es nicht nur schlecht. Der Autor ist fassungslos.
2 Meine Stimme <ruft> zu Gott, und ich will schreien! Meine Stimme <ruft> zu Gott, dass er mir Gehör schenke.
3 Am Tag meiner Bedrängnis suchte ich den Herrn. Meine Hand war des Nachts ausgestreckt und ließ nicht ab. Meine Seele weigerte sich, getröstet zu werden.
4 Denke ich an Gott, so stöhne ich. Sinne ich nach, so verzagt mein Geist. //
5 – Erster Lösungsversuch
Der Autor ist so fassungslos, dass er eigentlich nicht weiß, was er noch zu Gott sagen soll. Gottes Verhalten ist so unlogisch, da fällt einem nichts mehr ein.
5 Du hieltest <offen> die Lider meiner Augen; ich war voll Unruhe und redete nicht.
Um das Problem zu lösen, fängt der Autor noch einmal ganz von vorne an: Warum hat Gott denn die Welt erschaffen? Wozu hat Gott sich Abraham offenbart?
Und das ist doch eigentlich klar: Gott hat die Welt erschaffen, damit er jemanden hat, den er lieben kann. Mit dem Gott seinen endlosen Vorrat an Liebe teilen kann.
Und den Abraham hat Gott berufen, damit das mit Gottes Liebe noch direkter werden kann. Damit die Liebe nicht nur wie mit der Gießkanne irgendwie und unmerklich über die Menschen ausgegossen wird, sondern damit Gott den einzelnen Menschen oder die einzelnen Familien und Gruppen individuell lieben kann.
6 Ich durchdachte die Tage vor alters. Der Jahre der Urzeit gedachte ich.
Aber wenn Gott die Welt angeblich so sehr liebt, warum liebt er dann jetzt nicht? Warum geht es uns oder mir dann jetzt so schlecht?
7 – fünf Fragen
Im Zuge seines Nachdenkens kommt der Autor nun auf 5 Fragen. Sie, liebe Leser, wissen vermutlich bei allen 5 Fragen, dass die richtige Antwort „nein“ sein muss. Der Autor weiß es ja eigentlich auch, aber irgendwie sieht es nicht danach aus.
7 Ich sann nach des Nachts; in meinem Herzen überlegte ich, und es forschte mein Geist.
8 Wird der Herr auf ewig verwerfen und künftig keine Gunst mehr erweisen?
9 Ist seine Gnade für immer zu Ende? Hat das Wort aufgehört von Generation zu Generation?
10 Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Hat er im Zorn verschlossen seine Erbarmungen? //
Der Autor weiß, dass die richtige Antwort auf diese Frage in früheren Zeiten „nein“ gewesen wäre, aber ganz offensichtlich ist „nein“ jetzt falsch. Denn Gottes aktuelles Verhalten hat mit dem, was man von Gott von früher her gewohnt war, nichts mehr zu tun.
Gottes Liebe und Gnade und Güte scheint nicht mehr aktuell zu sein.
Damit kann der Autor nun aber sein Problem definieren. Das ist immer ziemlich wichtig, dass man weiß, was eigentlich das Problem ist. Man wird keine Lösung für ein Problem finden, dass nicht exakt formuliert ist.
Also formuliert der Autor:
11 Da sprach ich: Das ist mein Schmerz, dass sich die Rechte des Höchsten geändert hat.
Gott hat ganz offensichtlich seine Meinung geändert.
Oder seine Strategie.
Oder seinen Plan.
Anders kann es ja nicht sein.
Wenn Gott bei seiner Liebe und Güte und Gnade geblieben wäre, dann hätten wir jetzt nicht die Zustände, die wir de facto haben.
12 – Zweiter Anlauf Definition
Wenn Gott seine Vorgehensweise geändert hat, dann müsste sich das ja aus seinem bisherigen Handeln erklären lassen. Gott ist ja nicht sprunghaft, launisch, dass er heute hü und morgen hott und damit total unzuverlässig wäre.
Dafür müsste man nun noch einmal definieren, und zwar müsste man Gottes früheres Verhalten definieren, um es dann vom heutigen unterscheiden zu können.
Dazu schaut sich der Autor jetzt die nähere Vergangenheit an. Nicht mehr die Zeit der Grundlagen, also die Erschaffung der Welt oder die Berufung spezieller Menschen, sondern die Zeit der Wunder. Also die Zeit, wo man Gottes Handeln vom normalen Lauf der Welt unterscheiden konnte. Die Zeit, als sich Gottes Gnade von den anderen Abläufen in der Welt abgrenzen ließ.
12 Ich will gedenken der Taten Jahs; ja, deiner Wunder von alters her will ich gedenken.
13 Ich will nachdenken über all dein Tun, und über deine Taten will ich sinnen.
Und beim Nachdenken merkt der Autor nun, dass das mit Gottes Liebe, die Grundlage für Schöpfung und Berufung Abrahams war, ja seltsame Blüten getrieben hat.
Wenn man an Gottes Liebe denkt, dann denkt man an schönes Wetter und genug zu Essen und Gesundheit und Frieden und Wohlergehen und nette Menschen um einen herum.
Aber es war ganz anders!
Die ganzen Wunder Gottes waren ja nur nötig gewesen, weil es so drunter und drüber ging.
Irgendwie war da immer das Böse gewesen, und zwar ziemlich mächtig.
Egal,
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ob man in der Wüste kein Wasser hatte,
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oder ob die Länder im Ostjordanland die Israeliten nicht durchziehen lassen wollten,
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oder ob Jericho uneinnehmbar war
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oder ob Israel so von den Midianitern bedrängt wurde, dass man Gideon aktivieren musste
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oder ob Ahab und Isebel ein solches Schreckensregiment aufgebaut hatten, dass Elia und Elisa auftreten mussten.
Also Friede Freude Eierkuchen war nie gewesen! Die Liebe Gottes hatte man die ganze Zeit hindurch mit der Lupe suchen müssen!
14 – Erste Schlussfolgerung
Das lässt nur eine Schlussfolgerung zu, die der Autor jetzt so formuliert:
14 Gott! Dein Weg ist im Heiligtum. Wer ist ein so großer Gott wie unser Gott?
Wir hatten erwartet, dass Gott aufgrund seiner Liebe so handelt, wie der perfekte Mensch handeln würde:
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Ich bin krank, und Gott handelt jetzt wie der allerbeste, perfekte Arzt: Er macht mich gesund.
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Ich bin in Not, und Gott handelt wie der optimale Katastrophenschutz: Er rettet mich.
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Ich bin in finanziellen Schwierigkeiten, und Gott handelt wie der beste Banker aller Zeiten: Er gibt mir einen großzügigen Kredit und verzichtet auf die Rückzahlung.
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Ich bin von schlechten Menschen umgeben, und Gott handelt wie die perfekte Polizei und spricht Aufenthaltsverbote für diese schlechten Menschen aus, und die müssen jetzt irgendwo anders, aber nicht hier bei mir.
Ich erwarte also von Gott, dass er so handelt wie der allerbeste vorstellbare Mensch.
Ich erwarte, dass Gottes Liebe so ist, wie ich mir die wunderschönste Liebe eines optimalen Menschen vorstelle.
Und da hat der Autor jetzt bei der Betrachtung der Handlungen Gottes erkannt, dass wenn Gott aus Liebe handelt, dass da dann etwas anderes bei rauskommt.
Denn Gott ist heilig. „Dein Weg ist im Heiligtum“, sagt der Autor. Wir finden diese Einsicht später auch bei Jes 55,8
8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR.
Wir können die Liebe Gottes also nicht an unserer Gesundheit festmachen und nicht an unserer finanziellen Situation. Auch nicht an den netten Menschen um uns herum oder an erträglichen gesellschaftlichen Umständen.
Denn Gottes Liebe ist heilig. Sie ist damit auch größer als alles, was wir uns mit unserem menschlichen Verstand vorstellen können.
Und so kommt der Autor jetzt zur Beschreibung dieser heiligen Liebe Gottes, die doch irgendwie anders ist, als wie man das praktischerweise erwartet. Und er beginnt damit, dass er Gott als einen beschreibt, der Wunder tut.
Und da kann man jetzt natürlich schöne Dinge erwarten: Die beeindruckenden Wunder, die durch Elia und Elisa geschehen sind: das Feuer vom Himmel oder die Totenauferweckungen.
Oder die Wunder, die bei Gideon geschehen sind oder durch Simson, oder dass Josua die Sonne angehalten hat oder was die Bundeslade bei den Philistern angerichtet hat.
Aber nein, der Autor nennt nur ein einziges Wunder. Das ist hier alles recht sparsam.
15 Du bist der Gott, der Wunder tut, du hast deine Stärke kundgetan unter den Völkern.
16 Du hast dein Volk erlöst mit <deinem> Arm, die Söhne Jakobs und Josefs. //
Das einzige Wunder, das hier benannt wird, ist die Befreiung aus Ägypten.
Als wäre die Freiheit das größte Wunder.
Und diese Befreiung aus Ägypten beschreibt der Autor jetzt nicht in ihrem wahren historischen Vorgang, sondern gemäß ihrer Bedeutung. Das, was jetzt im Text steht, ist so nie passiert.
Es ist nämlich Aufruhr in der Schöpfung. Die Befreiung aus Ägypten war das erste Mal, dass die Schöpfung zugunsten von Menschen eingesetzt wird. Die Schöpfung verliert ihre Macht; der Mensch wird erlöst und steht damit über der Schöpfung. Denn im gelobten Land sollte es so sein, dass die Schöpfung den Gläubigen dienen muss.
Ab jetzt ist der gläubige Mensch göttlicher als die Schöpfung.
Und darum kracht es in der Schöpfung jetzt heftig:
17 Dich sahen die Wasser, Gott, dich sahen die Wasser: sie bebten; ja, es erzitterten die Tiefen.
18 Die Wolken ergossen Wasser, das Gewölk ließ eine Stimme erschallen, und deine Pfeile fuhren hin und her.
19 Die Stimme deines Donners war im Wirbelwind. Blitze erleuchteten die Welt. Es zitterte und bebte die Erde.
20 – Der Weg
Zum Schluss nun also die Lösung: Was ist das für ein heiliger Weg, den Gott mit den Gläubigen geht?
20 Durch das Meer <führt> dein Weg und deine Pfade durch große Wasser. Doch deine Fußspuren erkannte niemand.
Das war ein gewaltiger Weg, den Gott uns geführt hat.
Aber wir haben nicht verstanden, wo der Weg hinführt. (An Gottes Fußspuren hätte man erkennen können, wo es langgeht.)
Man hatte uns gesagt, wir bekommen Freiheit. Und mit dieser Freiheit bekommen wir das Land wo Milch und Honig fließt.
Wir dachten, der Segen, der damit zusammenhängt, ist
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mehr Gesundheit (auf dass du lange lebest auf Erden)
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mehr Geld
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mehr Sicherheit
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weniger Probleme und Ärger, also mehr Freude.
Und darum war der Autor am Anfang so genervt. Denn das war ja alles nicht eingetreten, und es wird auch nicht eintreten, denn wie ich schon öfters gesagt habe: Wenn die Christen gesünder und wohlhabender wären als die Ungläubigen, dann hätten wir hier jede Menge Leute in der Gemeinde sitzen, die hier säßen wegen des Geldes und wegen der Gesundheit, aber nicht wegen Gott.
Wir dachten, die Freiheit ist Freiheit vom Bösen. Und damit
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Freiheit von Krankheit
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Freiheit von Armut
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Freiheit von Gefahr
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Freiheit von Ärger und Problemen, also Freiheit von Bedrängnis
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und zusammengefasst: Freiheit von irgendwem, der uns beherrscht und knechtet und in Dinge verwickelt, die wir nicht wollen, also vom Teufel.
In Wahrheit war es aber eine Freiheit zu Gott hin.
Darum reden Paulus und die Evangelien auch so wenig vom Teufel. Weil der gar nicht so wichtig ist. Es ist nicht eine Freiheit vom Teufel. Es ist eine Freiheit zur Heiligung, eine Freiheit für Gott.
In frommen Kreisen wird dann oft gesagt, wir hätten „die Freiheit, Gott zu dienen“. Also irgendwie die Möglichkeit zum Gehorsam. Wir dienen jetzt halt Gott und nicht mehr dem Teufel. Die Grundidee ist immer noch die gleiche, nur dass der Pharao, dem wir jetzt unterstehen, andere Werte und andere Ziele hat.
Aber das ist natürlich viel zu kläglich. Minimalismus mag zur Zeit modern sein, aber hier ist er fehl am Platze.
Geplant war die Freiheit, damit wir göttlich werden. Heilig. Gott ähnlich. Umgestaltet in das Bild seines Sohnes.
Geplant war, dass wir himmlische Kräfte bekommen und himmlische Charaktere. Ein himmlisches Bewusstsein, himmlische Gedanken.
Damit wir dann wirklich mit Gott zusammen sein können. Mit Gott gemeinsame Sache machen.
Wir sollten in die Sphäre Gottes erhoben werden.
Wir haben ja damals nicht ahnen können, dass die Freiheit zu Gott hin, die wir bei den Propheten im Alten Testament sehen, dass die einmal für alle Gläubigen da sein wird! Na doch, wir hätten es ahnen können: Joel 3,1
3 Und danach wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgießen werde über alles Fleisch. Und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, eure Greise werden Träume haben, eure jungen Männer werden Visionen sehen.
Man hätte also ahnen können, dass es bei Gottes Planungen um mehr geht als nur um mein persönliches irdisches Wohlergehen.
21 – Man entdeckt eine Spur
Der Autor dieses Psalms dachte (um Vers 12 herum), es wäre nach dem Auszug aus Ägypten ein ziemliches Chaos gewesen: 40 Jahre Wüste und Einnahme des Landes von Osten statt von Süden, dann eine Richterzeit ohne Regeln, dann jede Menge Könige, von denen die meisten nichts wert waren.
Und mittendrin die Gläubigen, orientierungslos, der Natur ausgeliefert, den Militärs ausgeliefert, ein Jahrhunderte langes Durcheinander. Aber nein, es gab tatsächlich einen Plan:
21 Wie eine Herde hast du dein Volk geleitet durch die Hand Moses und Aarons.
Das alles war Gottes Plan. Da haben sich nicht zufällig Dinge ergeben. Da kam nicht ungeplant eins zum anderen, und zum Schluss hatten wir dann zufällig ein gutes Ergebnis. Sondern Gott hat sein Volk geleitet wie eine Herde: Zielgerichtet auf dem richtigen Weg.
Das Ziel war aber eben diese Freiheit hin zu Gott.
Das hat der Autor im Verlauf dieses Psalms erkannt.
Natürlich konnte der Autor noch nichts über Jesus sagen. Das ganze Ausmaß der Freiheit war ihm noch nicht klar. Darum hört der Psalm auch so unvermittelt auf. Der Autor merkte, dass die Reise noch nicht zu Ende ist. Dass noch mehr Freiheit möglich sein muss als wie zu seiner Zeit realisiert war. Andere Menschen, die nach ihm lebten, würden den Psalm fertig schreiben müssen.
Ich glaube, Sie sind damit gemeint.