Psalm 1 – Gerettet durch Begegnung
Oberflächlich betrachtet, könnte man mit diesem Psalm die einfache Rechnung aufmachen: Lebe moralisch anständig und lies Deine Bibel, dann wirst du erfolgreich und glücklich.
1 Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen, den Weg der Sünder nicht betritt und nicht im Kreis der Spötter sitzt,
2 sondern seine Lust hat am Gesetz des HERRN und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht!
3 Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt; alles was er tut, gelingt ihm.
Das Problem an dieser Stelle ist die Kausalität.
Es gibt in Wahrheit keinen direkten Zusammenhang zwischen der Meditation über das Gesetz Gottes und Glück und Erfolg.
Das Nachdenken über das Gesetz Gottes macht vielleicht klüger. Das Lesen der Bibel erweitert eventuell meine biblische Bildung.
Aber das Lesen von Texten oder das Nachdenken über Texte steht in keinem ursächlichen Zusammenhang mit Erfolg und Glück.
Ein ursächlicher Zusammenhang wäre: Ich trete gegen einen Fußball, und deshalb rollt der Fußball weg.
Ein ursächlicher Zusammenhang wäre: Mir tun die Augen weh vom vielen Bibellesen.
Aber wenn der Fußball in Köln rollt, während ich in Ingolstadt im Bus sitze, dann ist der Zusammenhang fraglich.
Umgehung der Kausalität
Natürlich kann man die Kausalität, die zwischen Vers 2 und Vers 3 fehlt, durch einen Gedanken ersetzen:
Gott belohnt denjenigen, der sich um Gottes Gesetz bemüht und gleichzeitig moralisch anständig lebt. Gott belohnt solche Menschen mit Glück und Erfolg.
Damit hätten wir eine Form der Werksgerechtigkeit.
Es gäbe einen direkten Zusammenhang zwischen Lesen und Glück, zwischen Meditation und Erfolg.
Viel lesen: viel Glück; viel Meditation: viel Erfolg.
Pech für den Analphabeten, dumm gelaufen für den Menschen mit niedrigem IQ.
Aber immerhin ein Rezept, mit dem man die Gemeinde prima auf Trab halten kann. Lest eure Bibel, Leute, sonst werdet ihr von Gott nicht belohnt!
Passt nicht
Allerdings hat der Psalm noch einen zweiten Teil, den man sehr gerne überliest, weil man im ersten Teil so eine moralisch anständige Werksgerechtigkeit geliefert bekommt:
4 Nicht so die Gottlosen; sondern sie sind wie Spreu, die der Wind verweht.
Das würde jetzt noch passen. Da der Bibelleser ein fest verwurzelter Baum ist, ist der Gottlose das Gegenteil: Haltlos und leicht.
Und der Gottlose ist so leicht und wertlos, weil Gott ihn nicht fürs Bibellesen belohnt.
Vielleicht merken Sie schon: Irgendwas ist jetzt schief.
Aber es wird noch schiefer:
5 Darum bestehen Gottlose nicht im Gericht, noch Sünder in der Gemeinde der Gerechten.
Man beachte das „darum“: Die Gottlosen bestehen nicht im Gericht, weil sie wie Spreu sind.
Der Sünder besteht nicht in der Gemeinde, weil er wie Spreu ist.
Sicher, für manche Leute aus sehr orthodoxen Gemeinden macht das Sinn, dass jemand, der im Rat der Gottlosen sitzt und die Bibel nicht liest, völlig unten durch ist. Wenn man allerdings bedenkt, dass weder Mose noch Samuel noch David berufen wurden, weil sie sich so viele Gedanken um den Text des Gesetzes gemacht haben, dann hat sich hier offenbar etwas sehr grundsätzliches verändert.
Warum die nicht bestehen
Jetzt wird die Begründung von Vers 5 wiederum begründet:
6 Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten; aber der Gottlosen Weg vergeht.
Die Gottlosen bestehen also deshalb nicht, weil ihr Weg vergeht. Die Spuren verwischen, der Eindruck verschwindet, sie geraten in Vergessenheit.
Gott kennt diese Leute nicht, weil sie nicht Bibel gelesen haben und dadurch zu Spreu geworden sind.
Diese Leute haben sich die Belohnung von Gott, also das Glück und den Erfolg, nicht durch entsprechendes Wohlverhalten verdient. Und das haben sie jetzt davon.
Sicher: Es gibt Gemeinden und Kreise, da funktioniert die Peitsche.
Und ebenso sicher: So steht es nicht da. Die Belohnung fürs Bibellesen hat sich irgendwer ausgedacht. Dass Glück, Erfolg und Gelingen ein Ergebnis von moralisch anständigem Lebensstil und hingebungsvoller Schriftbetrachtung sind, steht im Text nicht drin. Das ist eine Erfindung von Leuten, denen keine andere Kausalität einfiel.
Was bei der Bibelbetrachtung passiert
Was dieser Psalm aussagen will und warum man ihn als Einleitung vor die anderen Psalmen gesetzt hat, ist die Entdeckung, dass man im Gesetz (wir können erweiternd sagen: „in der Bibel“) Gott begegnet.
Der biblische Text hat eine bemerkenswerte Eigenschaft: Er ist nicht nur Text, der uns über etwas informiert, sondern durch intensives Betrachten dieses Textes steht man plötzlich vor Gott. Mitten im Nachdenken biegt auf einmal Gott um die Ecke, und dann steht man da: Auge in Auge.
Wer hier verliert, ist der Leser des Andachtsbuches. Der Leser des Andachtsbuches wird klüger. Er wird vielleicht inspiriert. Möglicherweise bekommt er ein umfassenderes Verständnis von Gott oder von göttlichen Dingen. Aber er begegnet Gott nicht, denn dazu bedarf es einer tieferen Beschäftigung mit dem Wort Gottes als nur, dass man einen Absatz liest und ihn sich dann vom Andachtsbuch erklären oder auslegen lässt.
Für den Leser des Andachtsbuches ist Gott Erkenntnisgegenstand. Gott ist das Objekt, welches betrachtet wird. Der Gegenstand, über dessen Eigenschaften man sich freut. Der Handelnde, von dessen Tun einem berichtet wird.
Für den Glückseligen von Psalm 1 ist Gott der, der einem plötzlich mitten im Text begegnet. Unverhofft. Unvorhersagbar. Der irgendwie im Text verborgen war, man weiß nicht wie. Man kann es auch nicht wissen, denn diese Eigenschaft des biblischen Textes ist vollkommen einmalig. Darum gibt es in den Sprachen der Welt keinen Ausdruck dafür. Weil einem das beim Lesen von Thomas Mann oder der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nicht passieren kann.
Wie Hiob in Hiob 42,5 sagt, hat der Leser des Andachtsbuches von Gott durch Hörensagen vernommen. Oft hat er sogar viel vernommen, denn viele Andachtsbuchleser lesen Jahrzehnte lang. Aber der Glückselige von Psalm 1 hat Gott gesehen. Wie Hiob Gott am Ende des vielen Nachdenkens ebenfalls gesehen hat.
Der Segen im Segen
Der Gesegnete ist nicht gesegnet, weil er sich anständig verhält und von Gott für Wohlverhalten belohnt wird. Spätestens, seit Jesus sich mit den Zöllnern und Sündern abgegeben hat, wissen wir, dass Gott so weder denkt noch handelt.
Der Gesegnete ist gesegnet, weil er Gott begegnet ist. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder. Denn er hat nicht nur einmal über den biblischen Worten meditiert, sondern er macht das regelmäßig.
Gott kennt den Weg des Gerechten, weil Gott und der Gerechte sich kennen.
Der Gerechte besteht in der Gemeinde, weil er mit Gott befreundet ist; weil er Gottes Stimme hören kann und nicht auf irgendwelche theologischen Meinungen angewiesen ist. Die Gemeinde kann jemandem eine schlechte Schulnote geben, weil er theologischen Quatsch erzählt. Sie kann einen Menschen aber nicht für grundsätzlich falsch erklären, der nachweislich mit Gott bekannt ist.
Dem Gerechten gelingt alles, und er ist nicht umzuwerfen, weil das Böse keine Chance hat, wenn ein Mensch mit Gott verbunden ist. Was Paulus in Römer 8 aufgreift, wenn er sagt, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Vorteil sein müssenk.
Der Gottlose ist wie Spreu, weil er keine Beziehung zu Gott hat. Damit fehlt ihm das, was eigentlich „Leben“ ausmacht, und sein Leben endet spätestens mit dem Ende seiner irdischen Existenz.
Die Neuerung
Mose, Samuel und David sind Gott nicht persönlich begegnet, weil sie über dem Bibeltext meditiert haben oder sich durch weltfremdes, asketisches Verhalten ausgezeichnet haben. Sondern Gott hat sich ihnen offenbart; scheinbar, weil ihr Herz in Ordnung war.
Die Propheten wie Elia und Elisa, Jesaja und Jeremia haben sich nicht durch das Vertiefen in Bibeltexte ausgezeichnet. Gott ist ihnen begegnet, weil Gott das wollte. Jeremia wurde schon im Mutterleib berufen, da kann er noch nicht so arg viel Bibeltext gelesen haben. Und ob Elia jemals Bibeltext zu Gesicht oder zu Gehör bekommen hat, ist fraglich.
Aber in allen diesen Zeiten gab es die Möglichkeit, Gott zu begegnen. Solange der Tempel in Betrieb war, konnte man Gott auch im Tempel begegnen, denn er wohnte dort. Ein paar alte Psalmen erzählen von dieser Möglichkeit.
Aber dann kam die Katastrophe der babylonischen Gefangenschaft. Ohne Tempel, und mit sehr wenigen Propheten und keinem Anführer, den Gott irgendwie persönlich berufen hatte.
Und in dieser Zeit entdeckten die Gläubigen, dass man Gott im Bibeltext begegnen konnte (der damals fast ausschließlich aus dem Gesetz bestand).
Und diese Entdeckung wird mit diesem Psalm veröffentlicht.
Man veröffentlichte diese Entdeckung als ersten Psalm oder als Vorwort der gesamten Sammlung, damit die Leser wissen, wie man diese Sammlung lesen könnte und welch ein Schatz darin verborgen ist. Denn das haben alle diese Psalmen gemeinsam: Wenn man sich tief genug in sie vertieft, kann man in diesen Texten Gott begegnen.
Irgendwie.
Beschreibbar ist das nicht.
Aber mit allen Konsequenzen.
Man ist dann wie ein Baum an einem Bach.
Denn wenn man Gott persönlich kennt, kann es nicht anders sein.
Man hat dann das Leben.
Johannes 17,3
3 Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.