Psalm 023 das Ende der Hirtenidylle
In diesem Artikel geht es darum, dass die gängige Auslegung des Psalms fehlerhaft sein muss, weil sie vernachlässigt, dass in nur 6 Versen zwei unbegründete Wechsel der Anrede vorkommen.
Wie Sie sich denken können, tut es mir unendlich leid, dass ich Ihnen den lieblichen Eindruck vom Psalm 23 rauben muss.
Als Gegenmaßnahme könnten Sie einfach nicht weiterlesen und schnell irgendwo anders hinklicken. Wahrheit wird sowieso überbewertet.
Aber sehen Sie: Das ganze Elend beginnt doch damit, dass in diesem kurzen Psalm 2x die Anrede wechselt.
Die ersten 3 Verse ist Gott „er“. Der Hirte. Dritte Person Singular.
Dann ist Gott zwei Verse lang „du“. Zweite Person Singular. Ohne dass irgendein Grund für diesen Wechsel zu erkennen ist.
Da steht ja nicht: „Darum habe ich zu Gott gesagt: ‚Du …‘“
Sondern ohne Anlass, ohne Erklärung wechselt der Text vom „er“ zum „du“.
Und im letzten Vers wechselt es wieder, und jetzt ist Gott noch nicht einmal mehr Subjekt, sondern nur noch ein Genitiv Objekt. Gott ist also nicht einmal mehr „er“. Und auch dieser Wechsel geschieht ohne erkennbaren Grund.
Natürlich können Sie jetzt sagen, das seien Haarspaltereien.
Wären es auch, wenn solche Texte so geschrieben würden, wie der Müllmann Nils seine Texte für den Poetry-Slam schreibt.
Dem Nils fällt Donnerstag während seiner Mülltour ein, dass er sich am Freitag für den Poetry-Slam im Bräustüberl angemeldet hat, und so sagt er in der Pause auf dem Mäuerchen beim Rewe zu seinen Kollegen: „Ich habe noch keinen Text für den Poetry-Slam morgen Abend. Sagt mal, was ich schreiben soll.“ Und dann bastelt man einen Text zusammen, und wenn da ein Wechsel in der Anrede vorkommt, dann passt das schon, kann mal alleweil als besonderen Kniff des Künstlers verkaufen.
So ein Psalm wird auch nicht so geschrieben, wie manche – auch christliche – Lieder: Reim dich oder ich fress dich. Und dann reimt sich halt Weiß auf Paradeis, wer will da kleinkrämerig sein.
Oder es wechselt mitten im Lied die Anrede, aber der Text muss ja zu den Noten und zum Rhythmus passen.
Nein, so wird ein Psalm nicht geschrieben, und ein Psalm wurde auch nicht in die Sammlung der heiligen Schriften aufgenommen, weil man die Grammatik und die Sprache irgendwie hingebogen hatte, kommt ja nicht so drauf an.
Und darum ist der zweimalige, unmotivierte Wechsel in der Anrede ein Hinweis darauf, dass man uns hier scheinbar mehr sagen will als dass man uns nur die Idylle des treusorgenden Hirten vor Augen stellen will.
Verse 1-3 der doppelte Hirte
Es beginnt mit der Grundaussage, die sozusagen die Überschrift über dem ersten Abschnitt ist: Psalm 23,1
1Ein Psalm. Von David. Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Es folgt nun die Anwendung dieser Beschreibung Gottes auf eher materielle Angelegenheiten, nämlich auf Essen und Trinken: Psalm 23,2
2Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern.
Jetzt kommt die Anwendung des Hirten auf nicht-materielle Vorgänge: Psalm 23,3
3Er erquickt meine Seele. Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen.
Man beachte hierbei die starke Begründung: Gott sorgt dafür, dass ich richtig lebe, damit Gott nicht blamiert wird: „Um seines Namens willen“.
Gott will nicht, dass die Leute sagen: „Was ist denn das für ein Gott, wenn dessen Leute sich derartig benehmen!“
Die Begründung ist also viel stärker, als wenn es nur um mich ginge. Wenn man sagen würde: Gott macht das, weil er mich liebt.
Das spielt sicher mit rein, aber Gott ist auch seine eigene Ehre relativ wichtig.
Der Punkt des ersten Abschnitts
In diesem ersten Abschnitt ging es darum, dass Gott mir dient.
Gott erbringt Dienstleistungen für mich.
Gott führt mich zu frischen Wiesen, die ich selber so vielleicht nicht finden würde, und er leitet mich zu trinkbarem Wasser, dessen Lage mir nicht bekannt war.
Gott erquickt meine Seele, wo ich sie nicht erquicken kann, und er zeigt mir, wie man richtig lebt, weil ich selber vermutlich den Durchblick zu diesem Punkt nicht habe.
So eine Dienstleistung Gottes ist nichts schlechtes. Gott hilft mir in schwierigen Momenten, Gott verteidigt mich gegen Angriffe von außen. Das ist gut so. Da gibt es erstmal nichts dran rumzumäkeln.
Aber diese Dienstleistungen Gottes sind eben auch nicht mehr als das: Dienstleistungen.
Es ist nicht mehr, als Gott allen Israeliten aus Gnade beim Auszug aus Ägypten angeboten hat: Gott hat die Plagen geschickt, er hat das Wasser des Schilfmeers zurückweichen lassen, er hat Wasser aus dem Felsen kommen lassen und Manna weiß der Kuckuck woher. Serviceleistungen am laufenden Meter.
Und was dieser Psalm sagen will, ist: So ein Service-Gott, der immer im richtigen Moment die richtige Hilfe aus der Schublade zieht, ist doch vielleicht ein bisschen wenig.
Das ist doch im Grunde genommen sehr ähnlich zu den Göttern der anderen Völkern, die es rechtzeitig regnen lassen sollen und eine Ehe fruchtbar machen sollen oder was der Serviceanfragen mehr sind.
Der Versucher
Und darum tritt in diesem Psalm der Versucher auf.
Er erscheint zwischen Vers 3 und Vers 4.
Stimmt, steht da nicht.
Aber ab Vers 4 antwortet David diesem Versucher. Darum wechselt der Text jetzt zu einem „du“. Wenn David dem Versucher antwortet, muss der Versucher vorher etwas gesagt haben.
Der Versucher kommentiert Davids Aussagen über die grünen Wiesen und das Wasser und die Seelenerquickung und die gerechten Wege, indem er sagt:
„Das stimmt doch gar nicht. Es gibt doch das Tal des Todesschattens, und es gibt Feinde. Du stehst also gar nicht immer auf einer grünen Wiese, sondern oft auch in so einem entsetzlichen Tal, und der Herr führt dich gar nicht dauernd an schöne Orte, sondern du stehst Feinden gegenüber, und zwar richtigen, wo es nicht mehr lustig ist.
„Wege der Gerechtigkeit“ ist die eine Seite der Medaille, und „Tal der Todesschatten“ ist die andere.
Gott ist also nur ein gelegentlicher Service-Gott, aber zwischendurch ist eben kein Service, da ist Tal des Todes. Klar, wenn man da durch ist, dann ist auch irgendwann wieder Service, aber Gott ist eigentlich kein Hirte, sondern eher so ein Rettungswagen, der gelegentlich vorbeikommt und gelegentlich irgendwo ganz woanders ist.
Gott rettet dich schon immer irgendwie, aber dazwischen musst Du alleine sehen, wie du klar kommst, und musst halt hoffen, dass der Hirte rechtzeitig wieder auftaucht, damit du nicht den Feinden oder dem Tal des Todesschattens erliegst.“
Wer der Versucher ist
Der Versucher, der diese Behauptung aufstellt, dass Gott gar kein Hirte, sondern eher eine Servicegesellschaft ist, ist Gott selber.
Das sieht man daran, wem David antwortet. Denn er antwortet natürlich demjenigen, der den Einwand gebracht hat.
Dass Gott als Versucher auftritt, ist gar nicht so ungewöhnlich. Gott testet durchaus gelegentlich das Verhältnis der Leute zu ihm, oder, wie wir vereinfacht sagen, Gott testet den Glauben der Leute.
So war es beim Angebot an Mose, dass Gott das Volk Israel als solches vernichten wollte und statt dessen Mose und seine Familie zum auserwählten Volk machen wollten (Ex 32,10; Deut 9,14).
So war es auch, nachdem Gott dem Hiskia sehr deutlich gemacht hatte, dass dieser mit allen Aspekten seines Lebens total von Gott abhängig war, und als dann die Gesandtschaft aus Babel kam und Gott Hiskia machen ließ, um zu sehen, ob Hiskia diese Haltung auch den fremden Diplomaten gegenüber einnehmen würde (2.Chr 32,31).
Die Antwort an den Versucher
Die Antwort an den Versucher ist jetzt so grandios, dass sie das Hirtenbild verlassen muss, um die Fülle zu beschreiben und der Großzügigkeit Gottes gerecht zu werden.
Psalm 23,4–5
4Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.
5Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über.
Die Antwort an den Versucher ist also: Jawohl, es gibt das Tal des Todesschattens, und es gibt Feinde. Aber selbst wenn es im Tal des Todesschattens keinen Service gibt – da ist also niemand, der mich aus dem Tal herausholt und schnell wieder auf eine grüne Wiese stellt – so ist Gott dennoch da.
Vielleicht ohne den gewünschten Service. Aber dein Stecken und Stab trösten mich.
Und die Feinde werde ich nicht nur überleben. Das wäre ja für das Schaf das Erstrebenswerte: Dass es vom Wolf nicht gebissen wird. Mehr als Gras ohne Wolf ist für so ein Schaf nicht vorstellbar. Schafe mögen ja keinen Kaviar.
Ich werde also die Feinde nicht nur überleben, sondern ich werde im Angesicht der Feinde festlich versorgt sein. Der Service besteht gar nicht darin, dass die Feinde beseitigt werden, sondern dass ich unantastbar bin. Aber auch das reicht als Beschreibung noch nicht, denn ich bin unantastbar und verwöhnt. Ich bin nicht nur gerade so unantastbar, sondern ich bin unantastbar wie ein König.
Das Ergebnis der Antwort
Jetzt kommt das Ergebnis dieser Diskussion zwischen David und dem Versucher.
Und es ist nicht klar, ob das Ergebnis daraus besteht, dass David versteht, dass hier viel mehr als „Hirte“ ist, oder ob dieses „viel mehr als Hirte“ eine Belohnung Gottes für diese gute Antwort ist.
Wie dem auch sei, das Ergebnis der Sache ist dieses: Psalm 23,6
6Nur Güte und Gnade werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und ich kehre zurück ins Haus des HERRN für immer.
Mit diesem Vers wird nun alles bisherige auf den Kopf gestellt.
Denn wer folgte bisher wem?
Bisher folgte das Schaf dem Hirten. Schafhirten gehen in der Regel voran, während Kuhhirten normalerweise den Kühen hinterher gehen.
Bestimmend war bisher die Richtung des Hirten. Der führte dahin, wo das saftige Grün und das frische Wasser war. Es war also nicht egal, wo ich hinging. Ich musste schon da hingehen, wo der Hirte hinging.
Aber jetzt ist es egal. Jetzt kann ich gehen, wohin ich will. Denn die Güte und die Gnade folgen mir, nicht ich ihnen.
Bisher musste ich schauen, dass ich da war, wo Gott war. Jetzt ist es anders: Egal, wo ich bin, da ist Gott auch.
Bisher bestand die Gefahr, dass ich mich verlaufe. Dass ich Gott unterwegs verliere. Dass ich aus Versehen die falsche Richtung einschlage.
Diese Gefahr besteht jetzt nicht mehr. Ich hänge jetzt nicht mehr an Gott und kann abfallen, sondern Gott hängt an mir, und der kann nicht abfallen.
Ich werde jetzt auch nicht mehr von Weide zu Weide, von Brennnesselfeld zu Mohnblumenwiese wandern, sondern ich bin bei Gott zu Hause.
Ich wohne da, wo Gott wohnt.
Ich bin immer da, wo Gott immer ist.
Letztlich ist das die Idee einer Einheit zwischen Gott und Mensch, die vollständig erst durch den Heiligen Geist im Neuen Bund umgesetzt wird.
Was das Haus des Herrn nicht bedeutet
Nur für die Klarheit:
Die Aussage, dass David für immer im Haus des Herrn wohnen wird, muss einen verständlichen Sinn haben. Wir haben hier einen Psalm aus Gottes Wort und nicht ein assoziativer Lyrik aus dem zeitgenössischen Literaturbetrieb.
Die Aussage mit dem ständigen Aufenthalt im Haus der Herrn kann aber nicht das ewige Leben bedeuten. Dieses Konzept des ewigen Lebens war im Alten Testament so nicht bekannt. Die Pharisäer zur Zeit Jesu hatten dieses Konzept schon, weil bei den Propheten manchmal Tote auferstehen und weil Henoch, Mose und Elia nicht gestorben sind und also irgendwo sein müssen.
Die Aussage mit dem ständigen Aufenthalt im Haus des Herrn kann auch nicht den Tempel in Jerusalem bedeuten, denn das würde dann auf so eine Art Einsiedelei oder Mönchtum im Kloster hindeuten. Solche Gewohnheiten sind uns aus der damaligen Zeit aber nicht bekannt, insbesondere ist uns keine Bewertung bekannt, die sagt, dass das irgendwie nützlich und gut und dem Willen Gottes gemäß wäre.
Und sollte man darauf bestehen, dass dieser Psalm tatsächlich von David ist, dann ist von David wohl nicht bekannt, dass er sich als Mönch in den Tempel zurückgezogen hat.
Zusammenfassung
In diesem Psalm wird das Bild von Gott als dem Hirten in Frage gestellt. Gott als der, der den Schafen einen gewissen Service angedeihen lässt, so dass die Schafe gefahrlos überleben.
Jesus übernimmt das Bild vom guten Hirten, aber auch dort erbringt der Hirte nicht verschiedene Serviceleistungen, sondern er lässt sein Leben für die Schafe. Jesus übernimmt also nicht das Bild von Vers 1-3, sondern entwirft ein weitaus größeres.
Der Psalm zeigt, dass Gott als Hirte natürlich erstmal eine schöne Sache ist. Auf jeden Fall weitaus besser als gar kein Hirte oder der falsche. Aber dieses Hirtendasein Gottes ist ein Übergangsmodus, es ist nicht das Ziel, das Gott für seine Beziehung zum Menschen anstrebt.
Das Ziel ist eine Einheit zwischen Gott und Mensch, wo niemand mich von der Liebe Gottes trennen kann, wo alles zu meinem Vorteil sein muss, wo dem Glaubenden alles möglich ist, wo Gott in mir wohnt und ich in ihm.
Das Bild mit dem Hirten ist nicht falsch. Aber es ist zu wenig.