Psalm 122 - keine Verwaltung von Altertümern

Der Psalm 122 fängt ganz unschuldig an:

1Ein Wallfahrtslied. Von David. Ich freute mich, als sie zu mir sagten: »Wir gehen zum Haus des HERRN!«

Das ist ja schön, dass der Schreiber sich gefreut hat.

Und die sind dann auch losgegangen, und zwar vermutlich anlässlich eines biblischen Festes.

Nach diesem Einleitungssatz würde ich erwarten, dass der Schreiber jetzt erzählt, was er in Jerusalem beim Tempel erlebt.

Wie das da so war.

Vielleicht dass er die Stimmung dort beschreibt. Die Atmosphäre.

Oder die Musik.

Oder wie sie ihr Opfer gebracht haben und wie Gott ihre Sünden vergeben hat.

Oder vielleicht haben sie eine Rede eines Priesters gehört.

Oder eine Verlesung des Gesetzes.

So etwas würde ich erwarten, wenn der Autor so anfängt: „Ich freute mich, als sie zu mir sagten: »Wir gehen zum Haus des HERRN!«

Die Enttäuschung

Aber nichts dergleichen kommt. Statt dessen beginnt der Autor nun, Jerusalem zu duzen.

2Unsere Füße standen dann in deinen Toren, Jerusalem.

3Jerusalem, die du aufgebaut bist als eine fest in sich geschlossene Stadt,

4wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme Jahs, ein Mahnzeichen für Israel, um den Namen des HERRN zu preisen.

5Denn dort stehen Throne zum Gericht, die Throne des Hauses David.

Als Einleitung würde man das ja noch akzeptieren. Bevor man zum Tempel kommt, kommt man ja erst einmal nach Jerusalem. Man betritt die Stadt durch die Stadttore. Man kann das bei einem Reisebericht in der Einleitung beschreiben, welchen Eindruck die Stadt beim Betreten auf einen macht.Psalm 122

Das hier ist aber nicht die Einleitung. Das ist der Hauptteil! Es kommt nichts anderes mehr!

Und die Aussage von Vers 5 ist: Die Stämme Israels ziehen nach Jerusalem, weil dort die Throne des Gerichts stehen.

Damit ist der Inhalt dieser Wallfahrt fertig.

Die Bitte

Der Rest des Psalms geht darum, dass der Schreiber will, dass der äußere Zustand Jerusalems so bleibt, wie er ist, oder eventuell sogar noch besser wird. Noch immer wird Jerusalem geduzt.

6Erbittet Heil für Jerusalem! Ruhe sollen die haben, die dich lieben!

7Heil sei in deinen Festungswerken, sichere Ruhe in deinen Palästen.

Das meint, dass der König keinen Ärger mit dem Reinigungspersonal und der Küchenhilfe hat.

8Wegen meiner Brüder und meiner Freunde will ich sagen: Heil sei in dir!

9Wegen des Hauses des HERRN, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.

Er will also in Jerusalem den Abfall von der Straße aufheben. Weil dort der Tempel ist.

Und damit ist der Psalm zuende. Da kommt nichts mehr.

Das Nichtverstehen

Natürlich kann man diesen Psalm lesen und erbaut sein aufgrund der frommen Worte, und dann hat es sich. Beim nächsten Mal liest man etwas anderes.

Neulich hat mich jemand gefragt, was ich denn an so einem einfachen Psalm nicht verstehe.

Nun ja, ich bin mal zur Schule gegangen. Und da hatten wir im Fach Deutsch die Textinterpretation. Da ging es um die Frage, was der Text sagen will. Warum hat der Autor den Text geschrieben? Was ist die Botschaft des Textes?

Natürlich verstehe ich jeden einzelnen Satz des Psalms. Es gibt ja Subjekt und Prädikat, und der Text ist angenehm ins Deutsche übersetzt.

Aber den Psalm als Ganzen verstehe ich nicht.

Was will man sagen, wenn man zuerst berichtet, wie sehr man sich gefreut hat, als die anderen im Dorf sagten, sie würden zum Fest nach Jerusalem gehen, und dann beschreibt man die Stärke der Stadtmauern und dass die Stämme Israel da eigentlich nur hingehen, weil da Throne des Gerichts stehen? Und anschließend wird man leicht hysterisch und sagt, dass alle für Jerusalem beten sollen, damit es ja so bleibt und sich um Himmels willen an diesem soliden baulichen Zustand nichts ändern soll.

Drei Fragen

Es ergeben sich also folgende drei Fragen:

1. Was wollte der Autor eigentlich sagen? Man muss sich doch etwas denken, wenn man sich hinsetzt und so einen Text schreibt. Da muss man doch eine Absicht haben. Roland Kaiser schreibt doch seine Schlagertexte auch nicht, indem er wahllos Sätze aneinander hängt.

2. Warum haben diejenigen, die die Sammlung der Psalmen zusammengestellt haben, diesen Psalm in die Sammlung aufgenommen? Es gab zu der Zeit bereits Unmengen von Liedern – allein Salomo soll 3000 erfunden haben – warum hat man ausgerechnet dieses in die Top 150 aufgenommen? Warum landete dieser Psalm in den Charts? Was haben die Redakteure der Psalmen sich dabei gedacht?

Und ja: Die haben den Psalm offensichtlich verstanden, anders als ich. Darum haben sie ihn aufgenommen. Wenn die das Gefühl gehabt hätten, das hat weder Hand noch Fuß, wäre der Psalm durchgefallen.

3. Was will Gott uns heute durch diesen Psalm sagen? Wenn es nur darum geht, dass Jerusalem solide Stadtmauern hat und dort Throne des Gerichts stehen, müssten wir das ja nicht als Wort Gottes lesen. Was also steht da drin, wovon Gott meint, dass wir es heute wissen müssten?

Wofür Jerusalem steht

Die Mitte des Psalms ist der Vers 5 (vorher sind 4 Verse, hinterher sind 4 Verse). Der Mittelpunkt und der Abschluss der Beschreibung sind die Throne zum Gericht, die Throne des Hauses David.

Während die Gerichte in Deutschland feststellen, was aufgrund der zahllosen deutschen Gesetze zu verlangen ist, stellen die Gerichte in Jerusalem fest, was nach dem Gesetz Gottes erlaubt oder verboten ist.

Die Throne zum Gericht sagen also, was gut ist und was schlecht ist. Sie sagen, wie man sich verhalten soll, und wie nicht.

Die Throne zum Gericht verschaffen dem Wort Gottes Geltung, oder sie legen es auch neu aus, denn es kann sich ja eine Situation ergeben, für die es im Gesetz keine eindeutige Regelung gibt.

Jerusalem steht in diesem Psalm also nicht als die Stadt, in der Vergebung geschieht oder in der man Dankopfer bringt und damit seine persönliche Beziehung zu Gott pflegt, sondern Jerusalem steht hier als der Ort, der das Wort Gottes schützt und es weiterentwickelt und rein hält.

Die einzige Verbindung zur Einheit

Das Wort Gottes ist das einzig Verbindende zwischen den Stämmen Israels. Ihre gemeinsame Abstammung von Jakob ist 800 Jahre her, und auch Sie haben vermutlich keine so tiefe emotionale Beziehung mehr zu Ihren Vorfahren aus dem 13. Jahrhundert und vor allem zu deren Geschwistern und deren Abkömmlingen.

Die israelitischen Stämme sprachen sogar unterschiedliche Dialekte.

Wenn es also eine Einheit zwischen den 12 Stämmen geben sollte, dann war das einzige Verbindende das Wort Gottes.

Einheit konnte somit nur entstehen, wenn alle sich unter dieses Wort beugten. Nicht: Wenn alle das Wort Gottes schön finden. Es entsteht keine staatliche und kulturelle Einheit, nur weil alle Rilke-Gedichte schön finden.

Sondern es war notwendig, dass alle dem Wort Gottes gehorchen.

Darum heißt Jerusalem als die Stadt, die das Wort Gottes verwaltet, in Vers 4 „ein Mahnzeichen für Israel“, denn es ist eine Mahnung an die Israeliten, das einzige, was sie tatsächlich verbindet, nicht aufzugeben.

Wir stehen als Gemeinde natürlich in genau der gleichen Situation: Auch für uns ist das einzig Verbindende untereinander das Wort Gottes. Dass wir heute morgen hier sind, hat nichts mit unseren privaten Beziehungen zu tun, sondern damit, dass Gott etwas gesagt hat.

Die starke Hüterin

Jerusalem ist also die Hüterin des Wortes Gottes.

Nicht nur der Tempel hat diese Rolle, sondern genauso die von David eingesetzte Richterschaft. Darum spricht der Autor hier auch nicht vom Tempel, sondern von der Stadt als ganzes. Nur wenn die weltlichen Richter nicht weiterwissen, dann waren sie aufgefordert, sich um Weisung an den Tempel zu wenden.

Wenn die Stadt aber Hüterin des Wortes sein soll, dann muss sie stark sein.

Wehrhaft.

Unbezwingbar.

Letztlich: Stärker als alle anderen.

Sonst könnte es nämlich passieren, dass irgendeinem Stammesfürst die Auslegung des Gesetztes nicht passt, und er deshalb Jerusalem angreift und alle diejenigen, die für den Schutz des Wortes Gottes zuständig sind, niedermetzelt.

Und ab jetzt wird gemacht, was der Stammesfürst für richtig hält.

Damit verliert das Wort Gottes natürlich an Bedeutung. Es ist nicht mehr durchsetzbar. Man kann dem Wort Gottes ungehorsam sein, ohne dass etwas passiert.

In der Bibel haben wir als Beispiel den König Ahab und die Königin Isebel. Die haben einfach alle umgebracht, die das Wort Gottes verkündigt haben, und Elia war einer von denen, die sie nicht gefunden haben. So konnte Elia dann das Wort Gottes hochhalten.

Das gleiche würde passieren, wenn Jerusalem von einer ausländischen Macht erobert würde, z.B. von den Babyloniern. Dann würde Recht und Gesetz von den Babyloniern bestimmt werden, nicht mehr von Gott, und wie man sich richtig verhält und wie es falsch ist, würden auch die Babylonier sagen und nicht Gott.

Darum ist es so enorm wichtig, dass Jerusalem stark ist. Nur wenn Jerusalem stark ist, ist das Wort Gottes geschützt.

Nur wenn Jerusalem stark ist, kann die Stadt dem Wort Gottes Geltung verschaffen.

Und das Wort Gottes hat viele Feinde. Es hat vermutlich viel mehr Feinde als Freunde.

Und darum wird der Schreiber im letzten Teil des Psalms so hysterisch und dringt so sehr darauf, dass man alles dafür tun muss, dass Jerusalem seine Stärke behält.

Die Gemeinde

Wenn dieser Psalm nur über Jerusalem sprechen würde, bräuchten wir ihn nicht zu lesen, denn wir haben mit Jerusalem nicht so viel zu tun.

Der Psalm steht aber in unserer Bibel, und er gehört damit zum Wort Gottes, weil die Notwendigkeit, das Wort Gottes zu behüten, fast eine ewige Notwendigkeit ist.

Zumindest besteht diese Notwendigkeit auch heute noch, denn auch heute hat das Wort Gottes mehr Feinde als Freunde.

Die Hüterin des Wortes Gottes ist heute die Gemeinde.

Die Gemeinde ist die Einzige, die heute dafür zuständig ist, das Wort Gottes bekannt zu machen, es richtig auszulegen und zu verlangen, dass dem Wort Gottes auch entsprochen wird.

Der 122. PsalmDie Gemeinde ist die Einzige, die dafür verantwortlich dafür ist, dem Wort Gottes Geltung zu verschaffen.

Und wegen der unglaublich vielen Feinde des Wortes Gottes ist es wichtig, dass die Gemeinde genauso stark ist wie damals Jerusalem.

Die Gemeinde muss genauso wehrhaft sein, genauso durchsetzungsfähig und genauso unüberwindbar wie damals Jerusalem.

Die Kraft der Gemeinde

Die Gemeinde hat ihre Stärke zum einen dadurch, dass der Teufel besiegt ist.

Diese Tatsache entstand erstens durch die Vergebung der Sünden, also dadurch, dass Jesus sich geopfert hat, um für die Sünden der Menschen zu bezahlen. Dadurch, dass die Sünden vergeben sind, hat der Teufel keine Anklagepunkte mehr, und er hat auch kein Recht mehr auf die Gläubigen, denn wem die Zugehörigkeit zur Mafia von Amts wegen vergeben ist, den kann die Mafia nicht mehr erpressen, und zu dem kann die Mafia auch nicht mehr sagen „du bist einer von uns“.

Der Sieg über den Teufel entstand zum zweiten aus der Tatsache, dass die Gläubigen ein neues Leben bekommen haben und damit der Tod als solcher beseitigt ist. Die ewige Trennung von Gott und damit das ewige Verlorensein ist abhanden gekommen, so dass man dem Teufel schlicht die Waffe aus der Hand genommen hat. Der Teufel kann nicht mehr mit dem Tod drohen, denn er verfügt nicht mehr darüber.

Die Gemeinde hat ihre Stärke als Hüterin des Wortes Gottes zum anderen durch den Heiligen Geist. Dieser wird die Gemeinde in alle Wahrheit leiten – was eben heißt, dass er der Gemeinde mitteilt, wie sie mit dem Wort Gottes umgehen soll, wie es aktuell zu interpretieren ist und wie es auf neu entstehende Situationen anzuwenden ist.

Für heute und so

Alles das, was der Psalm sagt, gilt auch für die heutige Gemeinde.

Eigentlich ist der Psalm extrem prophetisch, denn für die heutige Gemeinde gilt er vielmehr als für das damalige Jerusalem.

Denn als das damalige Jerusalem als Hüterin des Wortes Gottes nicht mehr funktionierte, da hat Gott die Propheten geschickt, welche die Aufgabe übernahmen, dem Wort Gottes Geltung zu verschaffen.

Und als auch auf die Propheten nicht mehr gehört wurde, haben die Juden in der babylonischen Gefangenschaft die Synagoge erfunden, die auch zur Zeit Jesu noch die Hüterin des Wortes Gottes war.

Für die Gemeinde gibt es aber keinen Ersatz. Das hat natürlich damit zu tun, dass die Gemeinde per se so stark ist, wie Jerusalem oder die Propheten es niemals waren. Die Gemeinde hat eine Macht, von der konnten Jerusalem und die Propheten nur träumen, auch wenn Elia und Elisa manch ein Wunder vollbracht haben, um dem Wort Gottes Geltung zu verschaffen.

Weil es also für die Gemeinde keinen Ersatz ging, darum sind die intensiven Bitten des Schreibers am Ende des Psalms heute noch viel realistischer als damals.

Und damit wir uns richtig verstehen: Jerusalem hat dem Wort Gottes in erster Linie gegenüber den eigenen Staatsbürgern Geltung zu verschaffen, nicht gegenüber den Babyloniern. Genauso haben heute die Throne des Gerichts in erster Linie den Christen zu sagen, was richtig und was falsch ist. Und nicht Herrn Scholz und nicht Mr. Biden.

Warum der Mann sich so freut

Warum freut sich der Schreiber des Psalms so, wenn man zum Hause Gottes geht?

Weil Gott ihm dort sagt, wie man richtig lebt. Damit vermeidet der Mann Fehler, er vermeidet es, sich Gott zum Feind zu machen, er sichert sich Segen.

Ohne das Wort Gottes wären wir alle aufgeschmissen.

Es gibt die ganz frommen, die sagen, nein nein, ohne Jesus wären wir aufgeschmissen.

Aber ohne das Wort Gottes wüssten wir überhaupt nichts über Jesus und wären grad genauso aufgeschmissen.

Natürlich könnte der Schreiber des Psalms auch zu Hause das Gesetz lesen. Aber die Throne des Gerichts sind ja dazu da, das Gesetz fortzuschreiben. Den Willen Gottes für hier und heute, für ungewöhnliche und unerwartete Situationen festzulegen.

Darum freut der Autor sich, dass man nach Jerusalem geht. Nicht, weil dort altbekannte Texte verlesen werden, sondern weil ihm dort gesagt wird, wo er sich verbessern kann; wie er richtiger leben kann; nicht, was Gott Mose vor 500 Jahren sagen wollte, erfährt er in Jerusalem, sondern was Gott ihm heute sagen will.

Die Gemeinde als Hüterin des Wortes Gottes ist nicht eine Hüterin von Altertümern, sondern sie ist dazu da, den Gläubigen zu sagen, was Gott ihnen hier und heute sagen will.