Psalm 94 – eine Freude für Jurastudenten
Klar, es gibt viele verschiedene Rechtssysteme auf dieser Welt.
Schon immer. Seit Jahrtausenden.
Nationale, aber auch internationale wie die EU oder Freihandelszonen oder das internationale Handelsrecht oder das Seerecht.
Es gibt auch Rechtssysteme, die einfach nur auf dem Recht des Stärkeren beruhen. Auch die Anarchie ist ein solches Rechtssystem.
Und dann kommt es vor, dass Rechtssysteme von anderen Rechtssystemen unterdrückt oder zerstört, abgeschafft oder ersetzt werden.
Oder ein Rechtssystem ist so wackelig, dass es nicht ordentlich funktioniert.
Also das ist immer so eine Sache mit den Rechtssystemen.
Wobei man sie durchaus braucht. Paulus beginnt Römer 13 damit, dass er sagt, die staatlichen Systeme dafür da sind, das Böse wenigstens einigermaßen in Zaum zu halten.
Also irgendwelche Regeln zu erlassen, damit die Menschen auf dem entsprechenden Staatsgebiet halbwegs vernünftig leben können.
Aber prinzipiell sind irdische Rechtssysteme sehr wackelig und sehr unzuverlässig.
Gegen die Wackeligkeit
Weil die weltlichen Rechtssysteme alle so ungenügend sind, darum hat Gott für sein Reich ein Rechtssystem erlassen, welches das Beste aller Zeiten ist und seine Zuverlässigkeit dadurch bekommt, dass Gott selber der Garant dieses Rechtssystems ist. Man ist also nicht auf irgendwelche Parlamente oder Gerichtshöfe oder Diktatoren angewiesen, die je nach Lage der Dinge irgendetwas oder auch etwas anderes entscheiden.
Gottes Rechtssystem gilt natürlich in Gottes Reich. Für das römische Reich oder das großmongolische Reich hat es keine Verbindlichkeit. Auch wenn Gott letztlich „Richter der Welt“ ist, so geht es im Psalm 94 nicht um Gottes Ansprüche gegenüber der gesamten Welt, sondern um das Rechtssystem, das speziell für Gottes Reich erlassen wurde.
Denn wenn die Japaner oder die Marokkaner sich nicht an Gottes Regeln halten, kann man da erst einmal nichts gegen machen. Gott hat denen die Freiheit gegeben, sich so oder anders zu entscheiden. Folglich kann man nicht von Gott verlangen, mit Gewalt auf diese Gruppen einzuwirken und sie zu zwingen, nach Gottes Regeln zu regieren.
Aber im Reich Gottes, da kann man es einfordern, dass Gottes Rechtssystem funktioniert. Denn von Gott kann man verlangen, dass er sich an seine eigenen Regeln hält.
Und das macht dieser Psalm. Er fordert die Funktionalität von Gottes Rechtssystem für das Reich Gottes ein.
Die Rache und so
In unserer Gesellschaft ist Rache nicht sehr gesellschaftsfähig. Persönliche Rache gilt als ein Zeichen von Schwäche. Man kann zwar über den Rechtsweg sich die verlorenen Rechtsgüter zurückholen, aber die Wohnung des Gegners anzuzünden oder seine Autoreifen zu zerstechen gilt als unfein und eigentlich nicht gesellschaftsfähig.
Wenn hier jetzt gleich von Rache die Rede ist, geht es um Menschen, die sich überhaupt nicht wehren können. In unserem rechtsstaatlichen deutschen System sind vor dem Recht alle gleich. In diesem Psalm sind aber nicht zwei Gleichwertige aufeinander getroffen, und einer hat dem anderen etwas böses getan. Sondern hier haben mächtige Menschen Witwen, Waisen und rechtlose Ausländer zu ihren Opfern gemacht, der Text sagt sogar, dass man diese umgebracht hat. Das würde logischerweise bedeuten, dass die Ermordeten sich ohnehin nicht mehr rächen können.
Was hier also beklagt wird, ist ein extremes Machtgefälle, das mit ungeheurer Dreistigkeit ausgenutzt wurde und gegen das es keine andere Möglichkeit gibt als die Rache Gottes. Man kann hier keinen Rechtsweg beschreiten und das Bundesverfassungsgericht anrufen.
Wir haben heute ein ähnliches Machtgefälle zwischen uns und dem Teufel. Der Teufel hat fast unendliche Möglichkeiten und unzählbare Machtmittel und ein riesiges Heer an Helfershelfern, und wir leben als Ausländer in seinem Reich.
1 Gott der Rache, HERR, Gott der Rache, strahle hervor!
2 Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt den Hochmütigen ihr Tun!
Es wird also der Richter angesprochen, nicht der Gnadenerweiser oder der Barmherzigkeitsausgießer. Es geht um Recht, das ausgeführt werden soll.
3 Bis wann werden die Gottlosen, HERR, bis wann werden die Gottlosen jubeln,
4 übersprudeln, Freches reden, werden sich rühmen alle Übeltäter?
5 Dein Volk, HERR, zertreten sie, dein Eigentum bedrücken sie.
6 Die Witwe und den Fremden bringen sie um, die Waisen ermorden sie.
7 Sie sagen: Jah sieht es nicht! Der Gott Jakobs merkt es nicht!
Der Autor geht davon aus, dass es ein Rechtssystem gibt, welches die Gläubigen schützt. Man braucht hier nicht sagen „die schwachen Gläubigen“, denn letztlich ist jeder Mensch schwach, insbesondere dann, wenn ihm aufgrund des göttlichen Rechtsystems gewisse Dinge nicht erlaubt sind. Wenn man dem Gegner kein Messer in den Rücken stechen darf und ihm nicht sein Vieh vergiften darf, dann fehlen einem wichtige Machtmittel.
Hier in diesem Fall gingen sogar die Übeltäter davon aus, dass es das Rechtssystem als solches gibt, aber sie hielten das System für wirkungslos, weil sie den, der angeblich der Garant dieses Systems war, nicht für voll nahmen. Sie gingen nicht von einem lebendigen Gott aus, sondern von einer Religionsfigur wie Baal oder einer Naturgottheit.
Gegen diese Ansicht wendet sich der Autor nun, indem er zu bedenken gibt, dass der Gott, der das Hören erfunden hat, doch wohl selber auch hören kann. Der Gedanke ist, dass Gott nicht etwas erfinden kann, zu dem er dann selbst nicht fähig ist. Niemand kann etwas erfinden, was ihn selbst übersteigt oder übertrifft.
Damit richtet sich der Autor natürlich an Personen, die Gott prinzipiell als existent anerkennen. Es macht ja keinen Sinn, jemanden, der die Existenz Gottes ablehnt, zum Nachdenken darüber zu bewegen, ob Gott nicht doch hören und sehen kann. Wenn Gott gar nicht existiert, kann er logischerweise auch nicht sehen und hören.
8 Habt Einsicht, ihr Unvernünftigen unter dem Volk! Ihr Toren, wann werdet ihr verständig werden?
9 Der das Ohr gestaltet hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gebildet hat, sollte der nicht sehen?
10 Der die Nationen unterweist, sollte der nicht zurechtweisen? — er, der Erkenntnis lehrt den Menschen?
11 Der HERR kennt die Gedanken des Menschen, dass sie ein Hauch sind.
Hier wird also versucht, das göttliche Recht auf gütlichem Wege durchzusetzen. Man will den Tätern noch einmal eine Chance geben, bevor Gott gegen sie einschreitet. Denn der Böse hat gegen das göttliche Rechtssystem keine Chance.
Bildung ist wichtiger denn je.
Da das göttliche Recht auf jeden Fall gilt, kann man froh sein, wenn Gott einen über die Bestimmungen dieses Rechts informiert. Gottes Angelegenheiten sind ja nicht selbsterklärend.
Dass man Bescheid weiß über das göttliche Recht, ist in diesem Falle besonders darum nützlich, weil man dann weiß, wie man sich gegenüber dem massiven Bösen aufzustellen hat. Wenn ich durch Gottes Gesetz über meine Rechte gegenüber dem Bösen informiert bin, kann ich relativ entspannt auf das Böse schauen.
Und darum kommt jetzt Bildung, und das erste Mittel zur Bildung ist auch hier Bibellesen:
12 Glücklich der Mann, den du züchtigst, Jah, den du belehrst aus deinem Gesetz,
13 um ihm Ruhe zu geben vor den bösen Tagen, bis dem Gottlosen die Grube gegraben wird!
In der Zwischenzeit, solange das Böse noch nicht beseitigt ist, können die, die von Gott belehrt sind, ohne Panik mit dem Bösen umgehen. Denn der Mensch kennt dann das Recht und weiß aus dem Recht auch die folgenden entspannenden Tatsachen:
14 Denn der HERR wird sein Volk nicht verstoßen, er wird sein Eigentum nicht verlassen.
15 Denn zur Gerechtigkeit wird zurückkehren das Recht und hinter ihm her alle, die von Herzen aufrichtig sind.
Wenn Jesus von großem Glauben sprach, dann sprach er oft vom Verständnis des Rechts.
Und zwar in dem Sinne, dass Gottes Wort, einmal gesprochen, immer so felsenfest ist, dass es nicht wieder aufhebbar ist.
Wenn ich etwas sage, dann ist das meistens eine Option. Es kann so kommen, aber vielleicht kommt auch etwas dazwischen, oder vielleicht überblicke ich den Sachverhalt gar nicht. Mein Wort ist nicht sehr zuverlässig, und vielleicht muss ich es auch zurücknehmen, weil das alles nicht hinhaut.
Wenn Gott etwas sagt, wird das sofort unauflösliches einklagbares Recht.
Darum sagt der Autor hier, dass Gott sein Volk nicht verstoßen wird und sein Eigentum nicht verlassen wird. Einfach, weil Gott es so gesagt hat.
Darum kann das nicht passieren.
Und damit kann man rechnen.
Da kann man ein Leben drauf aufbauen oder eine Lebenshaltung.
Und der Autor sagt hier: Das Böse wird nicht gewinnen.
Und er meint nicht: Irgendwann am Weltende oder so. Und bis dahin müssen wir das Böse stoisch ertragen. Sondern er meint das unabhängig von Zeit.
Darum steht in den Sendschreiben immer: „wer überwindet, dem werde ich …“. Siegen über das Böse kann man jetzt. Und jetzt sogar noch mehr, denn im Gegensatz zur Zeit des Psalmschreibers haben wir seit Jesus nochmal eine ganz andere Besiegung des Bösen.
Sicher, wir haben auch eine ganz andere Verzweiflung des Bösen. Und darum ein massives Wirken des Bösen.
Der Teufel bedroht uns nicht mit einem Baseballschläger, um uns totzuschlagen.
Der Teufel ruiniert unser Leben durch Missverständnisse.
Oder durch falsch Annahmen, so dass wir hinterher enttäuscht sind und irgendwem anders die Schuld an unserer Enttäuschung geben.
Oder durch falsches Denken. Durch negatives Denken. Rachsüchtiges Denken. Durch Denkspiralen, die man selber erzeugt.
Und so wie früher die Witwen und Waisen machtlos waren gegen das Böse, dass ihnen durch die Juristen oder die Großgrundbesitzer angetan wurde, so sind wir heute machtlos gegen das Böse, das durch Missverständnisse entsteht oder durch schicksalhafte Ereignisse oder durch unsere falschen Erwartungen oder durch verqueres Denken. Aber da gibt es eine Lösung:
16 Wer wird für mich aufstehen gegen die Übeltäter? Wer wird für mich auftreten gegen die, die Böses tun?
Und die Antwort ist klar: Das wird niemand anders machen als Gott.
So wie es für die Unterdrückten damals keine Regierung und keine Menschenrechtsorganisation gab, die für sie eintrat, so gibt es heute niemanden, der uns gegen das Böse in unserem Alltag hilft und der die Verwicklungen, die sich ergeben haben, zu einem guten Ergebnis entwirrt.
Und genauso sagt der Dichter das auch:
17 Wäre der HERR mir nicht eine Hilfe gewesen, so hätte wenig gefehlt, und meine Seele hätte im Schweigen gelegen.
18 Wenn ich sagte: Mein Fuß wankt!, so unterstützte mich deine Gnade, HERR.
Das war jetzt das einzige Mal in diesem Psalm, dass von Gnade die Rede war.
Weil der Fuß nämlich nicht wanken kann. Weil der Sieg des Rechts sicher ist. Gott patzt nicht.
Wenn ich an der Stelle trotzdem behaupte, mein Fuß wankt, dann ist das so wie bei den Aposteln im Sturm auf dem See. Jesus beschwert sich über den Kleinglauben. Wie kann ein Schiff untergehen, wo Jesus an Bord ist? Aber schließlich stillt der den Sturm. Aus Gnade.
Oder bei dem mondsüchtigen Jungen, als Jesus vom Berg herunterkam. Wie kann man einen Dämonen nicht austreiben, wenn doch das Böse besiegt ist?
Wer also dem Recht nicht so recht glauben will, der braucht zusätzliche Gnade.
Und dem Autor ist hier schon klar, dass das alles eine Frage von Mindset und von Haltung ist, und er sagt darum:
19 Als viele unruhige Gedanken in mir <waren>, beglückten deine Tröstungen meine Seele.
20 Sollte mit dir verbündet sein der Thron des Verderbens, der Unheil schafft gegen die Ordnung?
Da appelliert er noch einmal an die Logik. Dieses Mal an die Logik seiner eigenen Gedanken. Sollte Gott in irgendeiner Form mit dem Bösen verbündet sein, so dass das Böse eventuell doch noch irgendeine Chance hat?
Könnte es sein, dass Gott durch irgendeine Cousine zweiten Grades mit dem Bösen verbunden ist?
Kann ich mir sicher sein, dass Gott sein Recht und sein Wort gegen das Böse durchsetzt?
Kann ich mir sicher sein, dass Gott auf meiner Seite ist?
21 Sie rotten sich gegen die Seele des Gerechten zusammen, und unschuldiges Blut sprechen sie schuldig.
22 Doch der HERR wurde mir zur Burg, mein Gott zum Fels meiner Zuflucht.
23 Er lässt ihre Ungerechtigkeit auf sie zurückfallen, und in ihrer Bosheit wird er sie zum Schweigen bringen. Zum Schweigen bringen wird sie der HERR, unser Gott.
Die Frage des Dichters war: Gibt es eigentlich ein Recht gegen das Böse?
Oder müssen wir bei Gott immer um Gnade winseln, wenn das Böse mal wieder in unserem Leben auftritt?
Und die Antwort des Dichters ist klar: Es gibt ein Recht. Es herrscht Jura, nicht Caritas.
Dass es dieses Rechtssystem gegen das Böse gibt, ist natürlich Gnade. Gott hätte uns diese Rechte nicht geben müssen. Das war sein freier Wille, seine souveräne Entscheidung.
Aber seitdem er uns diese Rechte gegeben hat, sind sie eben Rechte.
Großer Glaube besteht darin, dass man weiß, welche Rechte man hat.
Und indem man diese Rechte dann auch ausübt.