Psalm 31 - Gott wird Sie nicht retten!
Dieser Psalm ist extra für den Gottesdienst geschrieben worden. Man sieht das daran, dass der Psalm so anfängt: Psalm 31,1
1Dem Chorleiter. Ein Psalm. Von David.
Und genau so müssen Sie diesen Psalm lesen: Als ein Stück Literatur, dass extra für den Gottesdienst geschrieben wurde. Das ist kein privates Tagebuch.
Die Gegner
Es geht in dem Psalm nicht darum, dass jemand mit einem Speer hinter dem Dichter her rennt oder er sonst irgendwie körperlich mit dem Tode bedroht wird. Es geht in diesem Psalm um Gefahren, vor denen man nicht weglaufen kann.
Das Exposé
Wenn man den Psalm liest, dann liest man ein ziemliches Durcheinander. Das ist aber mit Absicht so komponiert. Dieses Durcheinander soll im Gottesdienst vorgelesen werden. Denn der Dichter ist vermutlich nicht der Einzige, der so ein Durcheinander in seinem Leben angerichtet hat.
Der Text ist auch laufend voller Widersprüche. Das ist aber beabsichtigt und soll dem Gottesdienstbesucher genau so vorgetragen werden. Dem Gottesdienstbesucher wird hier die Widersprüchlichkeit seines eigenen Lebens vor Augen geführt.
Der Psalm besteht aus 5 Strophen und einem Schlusswort.
Strophe 1
Widmen wir uns der ersten Strophe. In ihr geht es darum, dass Gott für den Dichter Fels und Burg ist, also ein massiver Schutz. Aber die Burg ist kaputt; die funktioniert nicht.
Psalm 31,2–5
2Bei dir, Herr, habe ich mich geborgen; lass mich niemals zuschanden werden; rette mich in deiner Gerechtigkeit!
Das erste, was der Dichter hier macht, ist, dass er Gott erzählt, dass er sich bei Gott geborgen hat. Aber das reicht nicht. Obwohl er sich angeblich bei Gott geborgen hat, ist er nicht geborgen.
3Neige zu mir dein Ohr, eilends rette mich! Werde mir zum Fels der Zuflucht, zum unzugänglichen Haus, mich zu retten!
Die Burg funktioniert nicht. Und Gott soll jetzt bitte etwas machen, damit Gott zum Fels der Zuflucht wird. Gott möge jetzt bitte dringendst zu einem unzugänglichen Haus werden, wo die Feinde nicht hinkommen.
Der Anspruch ist also: Gott, verändere Dich! Mach was!
4Denn mein Fels und meine Burg bist du; und um deines Namens willen führe mich und leite mich!
Um Deines Namens willen: Du kannst Dir das doch gar nicht leisten, mich hängen zu lassen. Du bist doch Gott!
5Ziehe mich aus dem Netz, das sie mir heimlich gelegt haben; denn du bist mein Schutz.
Der Dichter ist also gleichzeitig in Gottes Burg und im Netz der Feinde.
Man erkennt vielleicht, dass das eigentlich nicht sein kann. Entweder man ist da, oder man ist dort.
Strophe 2
Wenden wir uns nun der zweiten Strophe zu. Sie erzählt, dass der Dichter einen ganz besonderen Status hat: Er ist nämlich von den Götzen und vom Aberglauben erlöst. Das war nicht nur der große Hintergrund des Auszugs aus Ägypten, dass man von lauter solchem Zeug erlöst ist, sondern das war auch der persönliche Hintergrund des Dichters: Er hatte das Privileg, den Unterschied zwischen Gott und den Göttern verstanden zu haben.
Psalm 31,6–9 (ELB)
6In deine Hand befehle ich meinen Geist. Du hast mich erlöst, Herr, du Gott der Treue!
Nur deshalb, weil Gott ihn aus dem Heidentum erlöst hat, kann der Dichter seinem Geist den Befehl geben, sich in Gottes Hand zu begeben. Und diesen Befehl hat der Dichter nun ausgesprochen, und jetzt könnte Gott doch wirklich …
Na, vielleicht muss man noch ein Argument nachlegen.
7Ich hasse die, die sich an nichtige Götzen halten, doch ich, ich vertraue auf den Herrn.
Dummerweise denkt Gott überhaupt nicht daran, aufgrund dieses wunderbaren Bekenntnisses nun die Probleme des Dichters zu lösen und die Feinde des Dichters zu bestrafen.
Denn das Bekenntnis des Dichters stimmt ja gar nicht!
Das sind leere fromme Worthülsen!
In Wahrheit vertraut er ja gar nicht auf Gott, sondern er vertraut seinen Feinden!
Und Gott hat es gemerkt. So ein Pech aber auch.
Wir haben hier zwei Stimmen, die sprechen. Zum einen haben wir Gott, der sagt: „Ich beschütze Dich.“ Zum anderen haben wir die Feinde des Dichters, welche sagen: „Wir vernichten dich.“
Und der Zustand des Dichters macht es ganz klar: Er glaubt den Feinden.
Der Dichter hat das Wort Gottes lange vor dem Wort der Feinde gehört. Aber als die Feinde jetzt das Wort ergreifen und sagen, dass sie den Dichter vernichten wollen, da sagt der Dichter nicht etwa: „Wie kann das gehen, wo Gott doch gesagt hat, dass er mich beschützt? Wie wollt ihr denn stärker sein als Gott?“
Sondern er hat den Feinden sofort geglaubt, hat Magenschmerzen bekommen und Kopfweh und Verzweiflung und all das andere, was er hier beschreibt.
Wenn es nach Gottes Gerechtigkeit gegangen wäre, die der Dichter in Vers 2 beansprucht hat, dann hätte Gott sagen müssen: „Du hast den Feinden mehr geglaubt als mir, dann sind ab jetzt die Feinde dein Herr und nicht ich.“
8Ich will jauchzen und mich freuen über deine Gnade, dass du mein Elend angesehen, die Bedrängnisse meiner Seele erkannt hast
9und du hast mich nicht überliefert in die Hand des Feindes, sondern du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt.
Die Füße auf weiten Raum heißt nichts anderes, als dass Gott dem Dichter jetzt noch einmal eine Möglichkeit zur Entscheidung gegeben hat. Der Dichter wird in den leeren Raum gestellt, weit weg von Gott und weit weg von den Feinde, und er kann jetzt noch einmal neu entscheiden, ob er denn nun Gott zum Herrn haben will oder die Feinde.
Strophe 3
In der dritten Strophe erklärt der Dichter nun, warum Gott eigentlich nicht so richtig verlangen kann, dass der Dichter sich jetzt noch einmal entscheiden soll, auf wen er hören will.
Der Dichter begründet das damit, dass es ihm zu schlecht geht. Und darum kann der Dichter im Moment nichts machen, sondern Gott soll was machen.
Psalm 31,10–14 (ELB)
10Sei mir gnädig, Herr, denn ich bin bedrückt; vor Gram verfällt mein Auge, meine Seele und mein Leib.
11Denn in Kummer schwindet mein Leben dahin und meine Jahre in Seufzen; meine Kraft wankt durch meine Schuld, und es verfallen meine Gebeine.
Ja, seine Kraft wankt durch seine eigene Schuld.
Der Dichter hat den Drohungen der Feinde mehr geglaubt als den Zusagen Gottes. Das ist seine Schuld. Und darum geht es ihm jetzt schlecht. Weil er deren Drohungen für voll nimmt.
12Vor allen meinen Bedrängern bin ich zum Hohn geworden, auch meinen Nachbarn gar sehr, und zum Schrecken meinen Bekannten; die mich auf der Straße sehen, fliehen vor mir.
13In Vergessenheit bin ich geraten, aus dem Herzen fort wie ein Toter, bin wie ein missratenes Gefäß.
14Denn ich habe das Gerede von vielen gehört, Schrecken ringsum; indem sie sich miteinander gegen mich zusammentun, sinnen sie darauf, mir das Leben zu nehmen.
Man nehme zur Kenntnis: Gott lässt sich durch das Gejammer nicht beeindrucken.
Strophe 4
In der 4. Strophe hat der Dichter eine persönliche Beziehung zu Gott hergestellt. Allerdings erst jetzt, wo seine Welt in Flammen steht. Vorher hat er irgendwie an Gott geglaubt, aber wie sich jetzt gezeigt hat, hatte dieser Glaube keine Substanz.
Und weil der Dichter jetzt diese Leistung der persönlichen Zuwendung zu Gott erbracht hat, deshalb fordert er Gott auf, sich ihm ebenfalls persönlich zuzuwenden, und zwar dergestalt, dass er den Feinden des Dichters den Mund stopft.
Und der Dichter strampelt sich dabei ziemlich ab, indem er Gott sagt, was Gott alles machen soll in dieser Situation, was also der Dichter sozusagen als Gegenleistung von Gott erwartet.
Psalm 31,15–19 (ELB)
15Ich aber, ich habe auf dich vertraut, Herr; ich sagte: Du bist mein Gott!
16In deiner Hand sind meine Zeiten; rette mich aus der Hand meiner Feinde und vor meinen Verfolgern!
17Lass dein Angesicht leuchten über deinem Knecht, rette mich in deiner Gnade!
18Herr, lass mich nicht zuschanden werden, denn ich habe dich angerufen; mögen zuschanden werden die Gottlosen, verstummen zum Scheol!
19Lass verstummen die Lügenlippen, die in Hochmut und Verachtung Freches reden gegen den Gerechten!
Das Dumme ist nur, dass Gott überhaupt nicht daran denkt, dem Dichter seine Wünsche zu erfüllen. Gott bestraft die bösen Menschen nicht. Die Zeit des Gerichts ist nicht hier und nicht jetzt. Muss sie auch nicht. Denn eigentlich wären die Gläubigen in Gottes Burg geschützt und auf Gottes Felsen in Sicherheit.
Wenn sie Gott tatsächlich glauben würden und nicht den Feinden mehr glauben würden als Gott.
Und darum muss Gott den Dichter auch nicht retten und wird es auch nicht tun. Wenn Gott tatsächlich des Dichters Burg und Fels und Schutz ist, dann ist er ja längst geschützt.
Und wenn Gott nicht des Dichters Burg und Fels ist, dann wird Gott sich ganz bestimmt nicht in eine schnelle Eingreiftruppe verwandeln. Gott hat längst alles gemacht, damit der Dichter vor den Feinden oder vor dem Teufel geschützt ist. Es gibt nichts mehr hinzuzufügen.
Strophe 5
Die fünfte Strophe erklärt nun dieses Vorgehen Gottes für richtig. Der Dichter zieht seinen Antrag zurück, dass Gott dieses machen müsse und jenes und noch irgend etwas.
Sondern er sagt: Das, was Gott schon immer für die Gläubigen bereit hielt, das ist das Richtige, und das funktioniert auch, wenn man Gott tatsächlich mehr vertraut als den Feinden.
Psalm 31,20–21 (ELB)
20Wie groß ist deine Güte, die du bereithältst denen, die dich fürchten, die du denen erweist, die sich bei dir bergen vor den Menschenkindern.
21Du verbirgst sie im Schutz deines Angesichts vor den Verschwörungen der Menschen; du birgst sie in einer Hütte vor dem Gezänk der Zungen.
Damit sagt der Dichter auch, dass das, was er in den Strophen 1-4 von sich gegeben hat, im Grund Käse war. Wenn in Ihrem Andachtsbuch also mal wieder der Psalm 31 zitiert wird, schaut bitte hin, ob es aus den Versen 1-19 ist. Die Verse 1-19 sind nämlich Quatsch.
Obwohl sie sich für das pietistisch geprägte Ohr natürlich wunderbar anhören.
Und nun lobt der Dichter Gott noch dafür, dass Gott ihm trotz seines massiven Fehlverhaltens noch eine zweite Chance gegeben hat. Dass er dem Dichter also, obwohl der sich eigentlich längst in Gottes befestigter Stadt befand, nun noch ein zusätzliches Mal Gnade erwiesen hat und Schutz zugesagt hat.
22Gepriesen sei der Herr, denn wunderbar hat er seine Gnade an mir erwiesen in einer befestigten Stadt.
23Ich zwar sagte in meiner Bestürzung: »Ich bin abgeschnitten, fort von deinen Augen.« Doch du hast die Stimme meines Flehens gehört, als ich zu dir schrie.
Dass der Dichter abgeschnitten war von Gottes Augen, meint nicht den Moment, wo die Feinde kräftig gegen ihn gearbeitet haben und Gott nichts getan hat, sondern meint den Moment, als der Dichter erkannte, was er da eigentlich machte und dass er gerade von Gott eine doppelte Gnade erwartete.
Was Gott gegenüber aber heißt, dass man seine erste Gnade nicht wertschätzt und nicht ernst nimmt und darum eine zweite braucht.
Der Dichter fühlte sich fern von Gott, als er merkte, dass Gott ihn eigentlich in die Hände seiner Feinde übergeben könnte, weil der Dichter deren Wort ja mehr vertraute als Gottes Wort.
Schlusswort: Anrede an die Gemeinde.
Weil der ganze Text ja für den Gottesdienst konzipiert war, darum kommt jetzt zum Schluss noch die Anwendung für die Gemeinde.
Psalm 31,24–25 (ELB)
24Liebt den Herrn, alle seine Getreuen! Die Treuen behütet der Herr, doch er vergilt reichlich dem, der anmaßend handelt.
Und der, der anmaßend handelt, ist nicht etwa der Feind. Das Gericht über Gottes Feinde kommt in diesem Psalm überhaupt nicht vor. Sondern anmaßend handeln tut derjenige, der so tut, als wäre er gläubig an Gott, aber wenn es schwierig wird, hat er keinerlei Vertrauen dahingehend, dass Gott ihn ja ohnehin retten wird.
Oder, wie Paulus sagt: Dass alle Dinge zum Vorteil der Gläubigen sein müssen.
Und wer das nicht glaubt, sondern bei jeder Schwierigkeit vor Angst und Befürchtungen vergeht, den wird Gott in seinen Ängsten drin lassen. Misstrauen gegenüber Gott muss man ausbaden, dass sagt der Vers 24.
Die letzte Anweisung ist so, wie sie ist, weil Gott längst alles gemacht hat. Die feste Burg steht, das Böse ist besiegt, Gottes Zusagen liegen gedruckt vor. Gott kann jetzt nichts mehr machen.
Jetzt müssen wir etwas machen:
25Seid stark, und euer Herz fasse Mut, alle, die ihr auf den Herrn harrt!
Mehr bleibt uns nicht. Denn alles andere ist schon getan.
Selbst die Tür, Gott zu bitten, dass er uns hilft gegen Menschen oder Ängste oder das Schicksal, diese Tür steht uns eigentlich nicht mehr offen.
Das ist so wie bei dem Sturm auf dem See, wo Jesus sich wunderte, dass die Apostel ihn weckten und wo er ihren kleinen Glauben bemängelte.
Der Psalm 31 hat uns erzählt, wie Glauben nicht geht. Damit wir daraus ableiten können, wie Glaube geht.