Psalm 19 – vom missverstandendsten Psalm im Universum
2Der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes, und das Himmelsgewölbe verkündet seiner Hände Werk.
Vermutlich ist es gut, dass David tot ist.
Weil er dann nicht mehr mitbekommt, was heutige Leser in diesem seinen Psalm lesen, wenn sie ihn eigentlich gar nicht lesen.
Denn für die meisten Christen ist dieser Psalm nach dem ersten Vers zuende. Sie wissen dann, dass das Sternenzelt die Herrlichkeit Gottes preist und das unendliche Universum das Werk seiner Hände lobt.
Nicht dass so etwas in dem Psalm drinstände, geschweige denn, dass das Thema dieses Psalms wäre.
2Der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes, und das Himmelsgewölbe verkündet seiner Hände Werk.
Soweit, so gut. Von Sternen, Firmament, Mond, Wolken, verschiedenen Sonnenständen, dem Weltall und Sternschnuppen ist hier überhaupt nichts gesagt. Wir werden weiterlesen müssen, um zu erfahren, wie der Himmel und das Himmelsgewölbe diese Aufgabe erfüllen
3Ein Tag sprudelt dem anderen Kunde zu, und eine Nacht meldet der anderen Kenntnis –
4ohne Rede und ohne Worte, mit unhörbarer Stimme.
Der Montag erzählt also dem Dienstag etwas, und der Dienstag dem Mittwoch.
Die Nacht auf Dienstag erzählt es der Nacht auf Mittwoch, und diese wiederum der folgenden Nacht.
Das ist ja nun immerhin schon seltsam, dass die Tage und die Nächte miteinander reden. Warum sollten die das tun?
5Ihre Messschnur geht aus über die ganze Erde und bis an das Ende der Welt ihre Sprache.
Aha. Die Tage und die Nächte besitzen eine Messschnur. Einen Zollstock. Der Montag und der Dienstag und der Mittwoch zusammen. Die Nächte vermessen etwas auf der ganzen Erde, aber eben alle Nächte miteinander.
Und das, was die miteinander reden, während sie vermessen, kann man bis ans Ende der Welt hören.
In ihm hat er der Sonne ein Zelt gesetzt.
Mit „in ihm“ ist hier das Himmelsgewölbe gemeint. Dieses Himmelsgewölbe ist hier nur und einzig als Zelt für die Sonne gedacht. Die Sterne, der Mond, das Weltall, die Wolken, die Sonnenuntergänge spielen hier alle nicht mit. Das Himmelsgewölbe dient in diesem Fall einzig und allein dazu, einen Rahmen für das Handeln der Sonne zu bilden. Damit die Sonne nicht wegläuft.
6Und sie, wie ein Bräutigam aus seinem Gemach tritt sie hervor;
Der Bräutigam ist an dem Tag, wo er der Bräutigam ist, der bestangezogene Mann weit und breit, und in diesem Fall auch der Wichtigste, denn ohne ihn gibt es keine Hochzeit. Der Bräutigam weiß um seine Rolle, und genauso bewegt er sich. Er kriecht nicht mühsam aus seinem Gemach, er schleicht sich nicht schüchtern mit verklemmter Haltung aus der Tür.
Wenn die Sonne morgens aufgeht, dann hat das Haltung.
sie freut sich wie ein Held, die Bahn zu durchlaufen.
Der Held ist gerne Held. Cristiano Ronaldo leidet nicht daran, dass er ein Held ist.
Die Sonne stöhnt nicht, weil schon wieder ein neuer Tag kommt und sie schon wieder von Ost nach West muss. Die Sonne ist begeistert, die macht das gerne.
7Am einen Ende des Himmels ist ihr Aufgang und ihr Umlauf bis zum anderen Ende, und nichts ist vor ihrer Glut verborgen.
Und damit ist der erste Teil dieses Psalms vorbei, und nun wissen wir, wie die Himmel die Herrlichkeit Gottes erzählen und die Himmelsgewölbe seiner Hände Werk verkünden.
Natürlich kann man sich jetzt irgendwie einen Lobpreis aus dem Bauchnabel wringen und sagen: „Oh ja, die Sonne geht Montags von Osten nach Westen und Dienstags von Osten nach Westen und Mittwochs auch, Halleluja, der Herr ist groß.“
In Wahrheit geht es hier um die Beschreibung der Zeit als das stärkste Werk der Schöpfung.
Die Sonne war für die Menschen damals der präziseste Zeitmesser, weil sie die kürzesten Zeiteinheiten angeben konnte. Der Mond konnte nur Monate anzeigen, und das auch nur, wenn der Himmel nicht wolkenverhangen war.
Von der Sonne wird die Zeit durch Tag und Nacht bestimmt, und jeder Morgen teilt uns wieder mit, dass die Zeit noch funktioniert, und jeder Abend macht dasselbe.
Dem Licht als Teil der Schöpfung könnte man entkommen. Man versteckt sich in einer dunklen Höhle.
Gegen den Löwen kann man versuchen sich zu wehren, und vor der Lava des Vulkans kann man versuchen wegzulaufen.
Gegen die Krankheit kann man Arznei nehmen oder irgendwelche Behandlungen durchführen. Wird nicht immer erfolgreich sein, aber man kann es zumindest probieren, es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
Gegen die Zeit kann man nichts machen. Es gibt noch nicht einmal einen tauglichen Versuch, ihr zu entkommen. Die Zeit ist, was das Erleben der Menschen angeht, das mächtigste Werk der Schöpfung Gottes.
Und so erzählen die Himmel in diesem Psalm die Herrlichkeit Gottes und verkünden seiner Hände Werk. Indem sie von der Zeit erzählen.
Allerdings erfährt man durch diese Verkündigung nur, dass es einen Gott gibt und dass der sehr mächtig und groß und irgendwie unfassbar ist. Man erfährt nicht den Namen dieses Gottes – dieser erste Teil des Psalms redet von Gott auch ganz neutral, er nennt den Namen Gottes nicht, es könnte auch Allah gemeint sein – und man erfährt nichts von den Absichten dieses Gottes oder irgendetwas Weiteres über ihn.
Der zweite Teil
Während Gott sich im ersten Teil des Psalms nur durch die Existenz der Zeit offenbarte, offenbart er sich im zweiten Teil durch beschriebenes Papier. Wir lesen etwas von Gott, und das Gelesene hat eine gewisse Wirkung auf uns. Und sowohl an der Qualität des Gelesenen als auch an der Wirkung des Textes auf uns erkennen wir Gott.
Wir haben jetzt also nicht mehr „der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes“, sondern wir haben jetzt „bedrucktes Papier erzählt …“ ja, was eigentlich?
8Das Gesetz des Herrn ist vollkommen, es erquickt die Seele;
das Zeugnis des Herrn ist zuverlässig, es macht den Einfältigen weise.
9Die Vorschriften des Herrn sind richtig, sie erfreuen das Herz;
das Gebot des Herrn ist lauter, es macht die Augen hell.
10Die Furcht des Herrn ist rein, sie besteht in Ewigkeit.
Die Rechtsbestimmungen des Herrn sind Wahrheit, sie sind gerecht allesamt;
11sie, die begehrenswerter sind als Gold, ja viel gediegenes Gold, und süßer als Honig und Wabenhonig.
Zu Gottes Offenbarung durch die Erfindung der Zeit oder der sonstigen Schöpfung kann der Mensch sich nicht stellen. Die Zeit ist halt da. Man kann sich darüber ärgern, aber letztlich habe ich nicht viel Wahl.
Ich könnte sagen: „Die Zeit gefällt mir nicht.“ Wird nicht viel bewirken.
Bei der zweiten Art, mit der Gott sich offenbart, habe ich die Wahl, wie ich mich dazu stelle.
Eine Wahl im ganz groben Sinn habe ich immer noch nicht, denn das Gesetz wird mir vor die Nase gestellt, da werde ich nicht gefragt.
Die Offenbarung Gottes geschieht erst, wenn ich das Gesetz ernst nehme. Es erfreut das Herz nur, wenn ich mich dran halte.
Wie gut das Gesetz ist und wie perfekt derjenige sein muss, der dahinter steht, erfahre ich durchs Ausprobieren, und damit durch bewusstes akzeptieren.
Ich erfahre durch das Gesetz die Pläne und Gedanken Gottes. Gott offenbart mir, was er denkt.
Und letztlich ist das auch genau das, was wir hier gerade machen: Wir lesen einen Text und lernen dadurch etwas über Gott.
Der dritte Teil
Im ersten Teil offenbart Gott durch die Schöpfung seine Herrlichkeit. Mehr aber auch nicht. Nur seine Herrlichkeit.
Im zweiten Teil offenbart Gott seinen Willen. Ich weiß jetzt, was Gott will, und ich kann mich dran halten, und darum wird sich die Qualität meines Lebens erhöhen, weil ich im Einklang mit Gottes Willen handele.
Nachdem wir im ersten Teil eine sehr begrenzte Offenbarung Gottes hatten, und dann im zweiten Teil eine viel weitergehende Offenbarung Gottes erkannt haben, kann man folglich an drei Fingern abzählen, dass jetzt im dritten Teil eine noch bessere Form der Offenbarung Gottes kommt.
Und so ist es: Im dritten Teil geht es darum, dass Gott seine Liebe ganz direkt und persönlich offenbart.
Gott und ich, wir machen etwas zusammen. Ach, nicht etwas, sondern jede Menge. Gott offenbart sich, indem ich etwas mit ihm erlebe.
Man erkennt das schon daran, dass Gott jetzt plötzlich geduzt wird. In den ersten beiden Teilen wurde von Gott in der dritten Person gesprochen, jetzt ist er „du“.
12Auch lässt sich dein Knecht durch sie warnen; in ihrer Befolgung liegt großer Lohn.
Das Gesetz von Teil 2 ist jetzt nicht mehr ein fehlerloser und klugmachender Text, sondern es ist Gottes Anrede an mich. Das Gesetz ist jetzt kein Sachtext mehr, sondern ein Liebesbrief.
13Verirrungen – wer bemerkt sie? Von den verborgenen Sünden sprich mich frei!
Wenn ich eine sehr freundschaftliche Beziehung zu Gott habe, dann sind Sünden ziemlich störend. Ich will ja Gottes Freund sein, da will ich ja nicht sündigen. Und darum müssen diese Sünden, die verborgenen, weg. Aber ich selbst kann das nicht machen, denn das sind ja verborgene Sünden, die ich nicht erkenne.
Gott soll die Sünden nicht wegmachen, denn das geht nicht. Die werden immer da sein. Aber er soll mich freisprechen, sie also nicht mehr werten. Gott soll die Freundschaft zwischen mir und ihm wieder herstellen.
14Auch von Übermütigen halte deinen Knecht zurück; sie sollen nicht über mich herrschen! Dann bin ich tadellos und bin rein von schwerem Vergehen.
Gott soll etwas machen. Die Übermütigen sind diejenigen, die auf der Autobahn Ball spielen, oder um hier im Bild zu bleiben, die das Gesetz Gottes für überflüssig erachten und Gott für nebensächlich. Das ist ziemlich übermütig, denn es ist genauso gefährlich wie Ball spielen auf der Autobahn.
15Lass die Reden meines Mundes und das Sinnen meines Herzens wohlgefällig vor dir sein, Herr, mein Fels und mein Erlöser!
Gott selber hat jetzt eine Rolle. Vorher hatte das beschriebene Papier eine Rolle. Es hat das Herz erfreut und den Dummen klug gemacht.
Jetzt ist es Gott selber, der mein Fels ist und mein Erlöser. Damit das wahr wird – behaupten kann man das natürlich immer, und als theoretische Wahrheit kann man es immer verkünden – aber dass Gott wirklich mein Fels und mein Erlöser wird, ist erst dann wahr, wenn ich mich tatsächlich in einer Situation auf Gott als meinen Felsen verlassen habe. Und wenn ich mich in einer Situation wirklich von Gott habe erlösen lassen.
Und dann tun wir noch soviel für die Beziehungspflege, dass Gott dafür sorgen soll, dass mein Reden und mein Denken Gott gefällt.
Gabriele
Nun muss man fragen: Warum hat der Autor diesen Psalm geschrieben.
Warum schreibt man sowas?
Das Problem, vor dem der damalige Autor genauso stand wie wir in der heutigen Christenheit, ist, dass die meisten Gläubigen nur bis Teil 2 kommen.
Das ist die Sache mit Gabriele. Ach, Gabriele!
Ich wohne seit 38 Jahren in Heidelberg, und seit 38 Jahren weiß ich, dass Gabriele mit heiß und innig liebt.
Damals, als das losging, war ich noch jung und Gabriele auch.
Und damals hat mir jemand erzählt, dass Gabriele mich liebt. Ich hab das zuerst nicht geglaubt, aber dann stand nach einigen Tagen auf eine nahe Hauswand gesprüht: Gabriele liebt Axel.
Und irgendwann bekam ich eine Postkarte von Gabriele, in der stand, dass sie mich liebt. Und ich fand einen Zettel auf meinen Gepäckträger geklemmt, der mich über diese Tatsache informierte.
Und immer wieder erzählte mir irgendwer, ob ich denn wohl wüsste, dass Gabriele mich so sehr liebt?
Immer mal wieder gab es Anzeigen in der Zeitung, in denen Gabriele mir mitteilte, dass sie mich wahnsinnig liebt. Und an einer Brücke hing irgendwann ein Schloss mit einem Herzen und den beiden richtigen Namen, und ich bekam auch einen Brief mit einem Foto von diesem Schloss und bin hingefahren, um nachzuschauen, ob es auch wirklich da hängt.
Eine Weile war ein Bus vom Busverkehr Rhein-Neckar mit dieser Botschaft bedruckt, dass Gabriele mich liebt, und immer mal wieder gab es Werbeplakate: Da steigt man an der Christuskirche aus der Straßenbahn und steht vor einem roten Herz mit entsprechender Botschaft.
Einmal bekam ich einen Anruf, ich solle mal aus dem Fenster gucken: Da flog ein Flugzeug über mein Haus, das ein Banner hinter sich herzog, auf dem stand: „Axel, ich liebe dich! Gabriele.“
Allerdings habe ich Gabriele nie gesehen, nie ihre Stimme gehört. Ich weiß gar nicht, wie sie aussieht. Oder wo sie wohnt. Aber ich habe mehr als hundert Briefe, in denen steht, dass Gabriele mich liebt, und Postkarten und besprühte Wände und Poster an Litfaßsäulen und Telefonschaltkästen, und Zettel in Büchern aus der Stadtbücherei, und als ich im Kino war in „der große Diktator“ mit Charly Chaplin, da kam es als Werbung im Vorprogramm.
Ich habe hunderte von schriftlichen Aussagen darüber, dass Gabriele mich liebt. Seit 38 Jahren.
Und ich kann mit gutem Gewissen und der Wahrheit gemäß erzählen: Gabriele liebt mich.
Und darum hat der Autor diesen Psalm geschrieben.
Weil die Gläubigen seit 38 Jahren haufenweise bedrucktes Papier haben, auf dem steht, dass Gott sie liebt. Die Bibel ist voll von solchen Aussagen.
Und manchmal kommt sogar einer und sagt: „Weißt du eigentlich, dass Gott dich liebt?“
Na klar weiß man das, man hat es ja hundertmal gelesen.
Seit 38 Jahren.
Aber man hat Gott nie getroffen.
Um im Bild mit Gabriele zu bleiben: Gott hat diese Leute nie in den Arm genommen.
Diese Gläubigen haben auch nie mit Gott zusammen gelacht.
Seine Stimme haben sie nie gehört.
Wie Gott sich anfühlt, wissen sie nicht.
Und darum wurde dieser Psalm geschrieben:
Gottes Herrlichkeit wird offenbart in der Schöpfung, hier im meisterhaftesten Meisterwerk der Schöpfung: Der Zeit.
Gottes Wille wird offenbart in der Bibel. Fehlerfrei, in höchster Qualität, erkenntnisreich und erbaulich.
Gottes Liebe wird offenbart durch Erleben.
Sie können sich jetzt etwas auswählen:
Möchten Sie die nächsten Jahre Sonnenuntergänge betrachten, Bibellesen oder doch etwas mit Gott erleben?