Prediger 12,1 – Jugend ohne Grund
Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht Zielgruppe bin – die Frage, was man macht, wenn man diesen Text zu spät im Leben liest, wird ja im Text nicht geklärt – so ärgert mich an diesem Satz am meisten, dass keine Begründung geliefert wird.
Man sagt „denke an deinen Schöpfer in der Jugendzeit“, aber man sagt nicht warum.
Ich würde doch erwarten, dass man mir die Vorteile eines solchen Gedenkens aufzählen würde. Oder die Nachteile, die ich erleide, wenn ich es nicht tue.
Aber nichts dergleichen geschieht.
Statt dessen werden im Folgenden die Nachteile des Alters aufgezählt. Diese Nachteile sind aber unvermeidbar, und sie verändern sich auch nicht, wenn ich in der Jugendzeit meines Schöpfers gedacht habe. Ich erfreue mich im Alter keiner besseren Zahngesundheit, weil ich in jungen Jahren fromm war.
Die Notwenigkeit einer Begründung
Die Begründung der Aufforderung wäre nötig, weil der Sinn des frühen Gedenkens sich nicht von selber erschließt.
Ja, im Gegenteil, man würde es sich doch genau andersherum denken: „Denke an deinen Schöpfer im Alter, denn dann brauchst du seine Hilfe“.
Genau so scheint ja auch die Argumentation zu gehen, denn von Vers 2 bis Vers 6 wird ausführlich aufgezählt, was man im Alter nicht mehr gut kann. In welchen Bereichen man also Gottes Hilfe bedürfte.
Statt dessen soll man des Schöpfers in der Jugend gedenken, wo man die meisten Dinge aber noch selber kann und Gott eigentlich nicht braucht.
(Ja, ich weiß: Jetzt kommt sofort jemand und weist auf die Gefahren der Jugend hin: den Übermut und die mangelnde Erfahrung und die Selbstüberschätzung und irgendwelche Dinge, die man im Alter als „Jugendsünden“ verbucht oder sogar bitterlich bereut. Und darum brauche man in der Jugend Gott viel mehr, weil man viel gefährdeter ist. Den vertrockneten Kartoffeln, die so hochmoralisch argumentieren, muss man aber sagen: Darum geht es offenbar in diesem Bibeltext nicht, denn sonst hätte man das als Begründung ja erwähnt.)
Die Auffälligkeit der Nachteile
Auffällig ist, dass hier – immer noch ohne Begründung – eine endlose Liste an Nachteilen des Alters geboten wird.
Nachteile Nachteile Nachteile.
Sehr unangenehm zu lesen, dieser Text.
Und am Ende der ganz große Nachteil des Lebens: der Tod.
Und der krönende Schluss des Absatzes: Alles ist Nichtigkeit.
Wie jetzt? Die Probleme des Alters sind Nichtigkeit?
Fragen Sie mal die alten Menschen, ob deren Beschwerden Nichtigkeiten sind!
Der literarische Kunstgriff
Ja, da hat jemand die Kunst des Schreibens beherrscht.
Der Autor hat nicht etwa die Vorteile der Jugend benannt, um die es ihm hier eigentlich ging.
Sondern er hat statt dessen die Nachteile des Alters benannt, aus denen man die Vorteile der Jugend ableiten soll.
Wobei der Autor aber gleichzeitig behauptet: Die Vorteile der Jugend sind gar keine Vorteile.
Womit logischerweise auch die Nachteile des Alters keine Nachteile mehr sind.
Denn, so sagt der Autor – Achtung, jetzt kommt der Merksatz! –
Ein Vorteil ohne Gott ist niemals ein Vorteil.
Wenn Sie also die Vorteile der Jugend tatsächlich als Vorteile genießen wollen, dann brauchen Sie dazu unbedingt Gott.
Wenn Sie denken, Sie hätten jetzt einen äußerlichen Vorteil: Reichtum, Gesundheit, großen Freundeskreis, Jugend, irgendeine herausragende Begabung – ohne Gott sind alle diese äußerlichen Vorteile Nichtigkeit.
In einfachen Worten gesagt: Weder Reichtum noch Gesundheit noch irgendein anderer Vorteil macht glücklich. Oder führt zu einem gelungenen Leben.
Andersherum gilt es genauso: Mit Gott sind sie trotz haufenweiser äußerer Nachteile immer im Vorteil.
Mit Gott sind die Nachteile tatsächlich Nichtigkeit.
Ebenso wie die äußerlichen Vorteile.
Denn mit Gott haben Sie nur Vorteile.
Genauso andersherum:
Ohne Gott sind Ihre Vorteile ebenfalls Nichtigkeit.
Ohne Gott haben Sie nur Nachteile.
Ja, das stimmt: Das ist das Gleiche, was Paulus in Römer 8,28 schreibt.
Jetzt wissen Sie, wo Paulus es herhatte.
Und was diesen ersten Satz von Kapitel 12 angeht: Er muss vollständig heißen:
Denke an deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugend, denn sonst ist deine Jugend nur ein eingebildeter Vorteil, aber kein echter.