Jeremia 1,11-12 ein Stück Baum anschauen
Wenn Sie einen Stock sehen, was sehen Sie dann?
Die Frage mag seltsam erscheinen, aber mit genau dieser Frage sah Jeremia sich konfrontiert. Jer 1,11-12
11 Und das Wort des HERRN geschah zu mir: Was siehst du, Jeremia? Und ich sagte: Ich sehe einen Mandelzweig.
12 Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen;
Man hätte also offenbar auch falsch sehen können.
Wobei man sich natürlich fragen muss: Was gibt es da falsch zu sehen?
Gott zeigt Jeremia den Zweig eines Mandelbaumes, und das ist dann halt der Zweig eines Mandelbaumes.
Aber Gott fragt eben nicht: „Was ist das?“, sondern er fragt, was Jeremia sieht. Und zwischen dem, was ist, und dem, was ein Mensch sieht, können mitunter Welten liegen.
Diese Geschichte steht im Zusammenhang der Berufung des Jeremia zum Propheten.
Und das ist hier die Prüfung, ob Jeremia überhaupt in der Lage ist, das zu sehen, was Gott zeigen will.
Denn wer kein Rumänisch kann, wird Rumänisch nicht verstehen, es sei denn, er macht sich die Mühe und lernt es.
Und wer kein Mongolisch kann, wird Mongolisch nicht verstehen, es sei denn, er macht sich die Mühe und lernt es.
Und darum wird hier geprüft, ob Jeremia Gott überhaupt versteht. Denn wie kann man Prophet sein, wenn man nicht versteht, was Gott sagt?
Der Stock als solcher
Man kann davon ausgehen, dass der Stock, den Gott dem Jeremia gezeigt hat, ohne Blätter war. Erstens wäre die Aufgabe sonst zu einfach gewesen, zweitens ist der Zustand des Stockes vor dem Frühling Inhalt des Gottesspruches.
Wenn man so einen Stock gezeigt bekommt und gefragt wird, was man sieht, kann man sehr verschieden antworten:
- Brennholz
- Abfall
- Wieder was, was im Garten rumliegt, und ich muss es aufräumen
- Futter für den Häcksler
- Ein Zeichen dafür, dass die Pfadfinder da waren und an den Bäumen randaliert haben.
- Da kann man was draus schnitzen
- Endlich etwas, wo ich meine Blumen dran festbinden kann.
- Ein hübscher Wanderstock
- Ein Rest vom letzten Sturm
- Borkenkäfernahrung
- Ein Stück Holz
- Ein Stock
- ein Zwetschgenbaumast.
Aber das Brennholz sieht nur der, der irgendeine Art von Feuerstelle hat.
Das Futter für den Häcksler erkennt nur, wer einen Häcksler hat.
Die Reste von den Pfadfindern erkennt nur, wer ohnehin einen Zorn auf die Pfadfinder hat.
Den Haltestock für die Blumen erkennt nur der, der gerade Blumen hat, die zum Umfallen neigen.
Den Abfall erkennt nur, wem ein ordentlicher Garten wichtig ist, und den Rest vom letzten Sturm erkennt nur, wer eine gewisse Affinität zu Wetter und Klima hat.
Den Stock erkennt nur, wer überhaupt nichts mit dem Ding anfangen kann und wen das Teil eigentlich nur langweilt.
Interpretation
Das heißt, was ich in dem Zwetschgenbaumast sehe, hängt von meinen Interessen ab und von dem, was in meinem Kopf gerade vor sich geht. Es hängt auch davon ab, was ich denke, was derjenige, der mir den Ast zeigt, jetzt gerade will. Es hängt von der Beziehung ab, die ich zu demjenigen habe, der mir den Ast zeigt.
„Er zeigt mir einen Ast. Jetzt darf ich nichts falsch machen. Ich muss unbedingt die richtige Antwort geben. Ich darf mich nicht blamieren. Jetzt nur keinen Fehler! Sonst heißt es hinterher, ich verstünde nichts und hätte keine Ahnung.“
Was ich sehe, hängt ganz stark von meiner Beziehung zu dem ab, der mir das Objekt zeigt.
„Gott zeigt mir einen Ast. Gott will etwas sagen, sonst würde er mir den Ast nicht zeigen. Das ist bestimmt eine Zuchtrute für die Sünder. Oder das Holz für das höllische Feuer, in dem die elenden Sünder verbrennen sollen.“
„Der zeigt mir einen Ast und fragt tatsächlich, was ich sehe. Hält der mich für blöd? Jeder dreijährige weiß, was das ist. Was soll diese kindische Frage? Werden hier eigentlich auch Fragen mit Niveau gestellt oder bleiben wir auf dieser geistigen Höhe? Auf jeden Fall werde ich die Frage nicht beantworten, ist doch albern. Der will mich doch hier nur vorführen.“
Was ich sehe, hängt ganz stark von meiner Beziehung zu dem ab, der mir das Objekt zeigt.
„Das ist eine Falle. Das ist ganz bestimmt eine Falle. Der zeigt mir doch nicht ohne Hintergedanken so einen lächerlichen Ast. Bevor ich jetzt antworte, muss ich rauskriegen, welche falsche Antwort er hören will und was er mir dann vorwerfen will.“
„Ah, Gott will etwas sagen! Mit so einem Zweig. Puh, was wird Gott sagen wollen? Moment, in welchen Jahr sind wir denn? 630 vor Christus. Gleich kommt Nebukadnezar. Israel am Scheideweg. Der Zweig als Zeichen für eine Abzweigung! Gott, ich weiß, was das ist! Das ist ein Zeichen für die Notwendigkeit, dass Israel sich entscheiden muss, welchen Weg es gehen will!“
Die richtige Antwort
Jeremia hat die richtige Antwort gegeben. Das sagt Gott. Jeremia hat das Richtige gesehen.
Das Richtige war „der Zweig eines Mandelbaumes“.
Das war die sachlich beste Antwort, die man geben konnte, auch wenn die Antwort nicht besonders intelligent und nicht besonders kreativ war. Aber sie war sachlich eins a.
Jeremia hat keinerlei Interpretation in sein Hingucken gelegt. Er hat den Stock nicht interpretiert, als Brennholz oder Zuchtrute oder Blumenstandhilfe.
Jeremia hat keinerlei Bewertung in sein Hingucken gelegt. Das ist nur so ein Zweig. Bloß ein Zweig, mehr nicht. Wenn Gott wirklich so toll ist, wie die Leute sagen, könnte er mir auch etwas mit Goldrand und ein paar Juwelen dran zeigen.
Gott zeigt dem Jeremia etwas, wo man sich ja schon ein paar Gedanken machen könnte, ob man sich nicht verguckt hat. Gott zeigt mir etwas, und dann ist es nur ein Stock? Das kann doch gar nicht sein, dass Gott mir so etwas belangloses zeigt. Da muss ich nochmal hingucken, da habe ich bestimmt etwas übersehen.
Die Antwort des Jeremia ist unkreativ und unkritisch und irgendwo unter seinem Niveau. Aber sie ist sachlich das Richtigste, was man hätte antworten können. Sie ist wissenschaftlich erstklassig, und sie ist ausreichend.
Der Beweis
Und damit ist nun bewiesen, dass Jeremia die Fähigkeit hat, in Gottes Dienste zu treten.
Weil er das, was Gott ihm zeigt, dermaßen gefühllos und ohne eigene Meinung betrachten kann, so dass er tatsächlich sehen kann, was Gott ihm zeigt, und nicht das, was er meint, was Gott wohl sagen wollen würde.
Denn tatsächlich, jede Interpretation des Zweiges wäre sinnlos gewesen. Man wäre nicht auf das gekommen, was Gott sagen will: Jer 1,12
12 Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich werde über meinem Wort wachen, es auszuführen.
Da Gott mit Jeremia offenbar in einem hebräischen Dialekt redet, benutzt er ein Wortspiel, das nur auf hebräisch funktioniert. „Mandelbaum“ und „wachsam sein“ klingt auf hebräisch sehr ähnlich, und zudem ist der Mandelbaum im Frühjahr der erste Strauch, der erwacht.
Es gibt Bibelübersetzungen, die haben anstelle von „Mandelbaum“ „Wachholder“, damit das Wortspiel auch auf Deutsch funktioniert.
Wie man Bibel liest
Es ist immer und überall auf der Welt ein Problem, dass die Leute nur hören, was sie hören wollen, und nur verstehen, was sie verstehen wollen.
Darum wird auch in der Persönlichkeitsentwicklung soviel Wert auf das Zuhören gelegt, damit man wirklich mitbekommt, was der Andere eigentlich sagen will. Und da der Andere anders ist, wird er wahrscheinlich etwas anderes sagen wollen, als wie wir denken, dass er sagen will.
Wir sagen dann auf Deutsch oft: Man redet aneinander vorbei. Da trifft sich nichts.
Mit Gott haben wir nun jemanden, der noch anderster ist als der Andere.
Denn Gott ist kein Mensch. Er rechnet nicht in menschlichen Möglichkeiten, da ihm unendliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Wenn ein Mensch etwas sagt, dann haben wir berechtigter Weise bestimmte Erwartungen an das, was er sagt. Es gibt einfach eine gewisse Logik im Leben, und wenn ich jemanden zu seiner Haltung zu Atomkraftwerken frage, dann erwarte ich nicht, dass er sagt, dass die Existenz von Atomkraftwerken sich auf die Drehrichtung von Schrauben auswirkt. Der Mensch lebt in einer Welt begrenzter Möglichkeiten, und Atomkraftwerke verändern nicht die Drehrichtung von Schrauben.
Gott hat aber unendliche Möglichkeiten, und darum muss man, wenn Gott etwas sagt, so furchtbar genau und sachlich und unvoreingenommen hinhören, weil jede vorgefasste Meinung Gott gegenüber versagen muss.
Der zeigt einem den Zweig eines Mandelbaums und verkündet als logische Folgerung, dass er für sein Wort garantiert. Da käme man niemals von selbst drauf.
Da wacht er nun
Gott gibt mit dem Mandelbaumzweig die Garantie, dass er das, was er sagt, auch wahrmachen wird.
Da hätte man vermutlich auch selbst drauf kommen können, dass Gottes Wort zuverlässig ist. Aber die Wahrheit ist natürlich, dass man eigentlich nicht damit rechnet, dass das, was Gott sagt, auch tatsächlich geschieht.
In der Regel ist man deshalb misstrauisch, weil das, was Gott sagt, so ungewöhnlich ist und seine Ankündigungen wenig mit unseren eigenen Erfahrungen zu tun haben.
Und dann ist man ja auch noch mit gewissen Voreinstellungen an das Wort Gottes herangegangen. Die Leute zur Zeit Jeremias waren sich völlig sicher, dass Gott Jerusalem niemals preisgeben wird. Dass Gott sie immer vor den Babyloniern beschützen wird. Und wenn Gott dann genau das Gegenteil von den Überzeugungen der Leute sagt, dann werden die das nicht glauben.
Sollten sie aber. Denn Gott hat den Mandelbaumzweig gezeigt, und Gott wird darauf achten, dass er das, was er sagt, auch macht.
Und das galt damals bei Jeremia genauso wie heute gleichzeitig für das geschriebene Wort der Bibel als auch für das, was Gott außerhalb der Bibel sagte. Das, was Gott zu Jeremia sagte, war zur damaligen Zeit ja außerhalb der Bibel.
Aber das, was Gott zu Jeremia sagte, deckte sich mit allem, was Gott früher schon gesagt hatte und was aufgeschrieben worden war. Gott widersprach nicht dem Gesetz des Mose.
Christen hoffen ja immer noch, dass Gott gewisse Teile der Bibel nicht wahrmachen wird. Oder das die nicht so gemeint sind, wie das da steht. Dass man das anders interpretieren muss. Aber das haben die Gläubigen zur Zeit des Jeremia schon gedacht und die zur Zeit Jesu und die Gläubigen aller Zeiten auch, und es war jedesmal falsch.
Zuerst war der Mandelbaumzweig natürlich für Jeremia. Denn auch Jeremia wird mitunter gedacht haben: Das kann ich so nicht sagen. Das ist zu bizarr. Das habe ich bestimmt falsch verstanden. Oder das ist ein Test von Gott, der gelegentlich Blödsinn redet, um zu prüfen, ob ich aufmerksam bin.
Aber Gott wird über jedes seiner Worte wachen, um es auszuführen.
Und die Sache mit dem Mandelbaumzweig finden wir dann später auch bei Jesus. Nur dass Jesus die Holzanteile weglässt, und darum klingt es bei Jesus so: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“ (Mk 4:9 + 4:23).
Schlusswort
Der Fuchs verriet dem kleinen Prinzen sein Geheimnis, und das war: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Das ist im Falle von Gottes Wort aber falsch. Beim Bibellesen und beim Zuhören gilt: Man sieht nur mit dem vorurteilsfreien, eiskalten, sachlichen, unvoreingenommenen Verstand gut.