Daniel 10 - der eigentliche Inhalt steht im Text nicht drin

Auf den ersten Blick ist Daniel 10 ein Kapitel, das man leicht überspringen kann, weil gar kein prophetischer Inhalt drin vorkommt.

Damit wäre man aber genau der Absicht dieser visionären Bücher aufgesessen, die ja so geschrieben sind, das der unbedarfte Leser nicht sieht, was darin geschrieben steht, obwohl er jeden Buchstaben lesen kann. Jesus hat eine ganze Menge Aussagen dazu gemacht, dass der größte Teil der Menschheit Gottes Aussagen eigentlich nicht verstehen soll. Hier sei als Beispiel nur eine genannt:
Lukas 8,10
Jesus aber sprach: Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu wissen, den übrigen aber in Gleichnissen, damit sie sehend nicht sehen und hörend nicht verstehen.
Und so ist dieses Kapitel 10, das mit den Kapiteln 11 und 12 zusammen gehört, eine wichtige Antwort auf die Frage, was denn Gott und die Gemeinde idealerweise machen, um in den schwierigen Zeiten, die uns Kapitel 7 und 8 vorgestellt haben, sinnvoll und optimal zu handeln.

Der Inhalt, wie er zu sein scheint

Daniel trauerte drei volle Wochen lang und fastete dabei. Natürlich trauerte er nicht, weil jemand gestorben war, sondern wegen des Zustandes seines Volkes. Wir befinden uns im dritten Jahr des Kyrus, was bedeutet, dass das Edikt, dass die Juden nach Jerusalem zurückkehren durften, schon seit mehr als einem Jahr in Kraft war. Und aus den Büchern Esra und Nehemia wissen wir, dass dieses Edikt keineswegs zu einer triumphalen Heimkehr der Juden geführt hat, sondern dass die Meisten überhaupt nicht zurück wollten, und die, die zurück gingen, fanden in Jerusalem nur Trümmer und Widerstand und bekamen es nicht auf die Reihe.

Das heißt, dass die Verheißungen Gottes über die strahlende und herrliche Zukunft seines Volkes irgendwie nicht funktionierten. Teils natürlich, weil die Juden selbst kein Interesse an der Rückkehr hatten, aber irgendwo war auch Gottes Rolle bei dieser Sache unverständlich. Wo blieb der angekündigte Glanz und die angekündigte Herrlichkeit?
Während also Daniel mit solchen Fragen beschäftigt ist, erscheint nun Gott. Es wird nicht gesagt, in welcher Person er hier genau erscheint - die Beschreibung erinnert sehr an Jesus in Offenbarung Kapitel 1, aber es ist wohl nicht so wichtig, welchen Namen diese Person hier jetzt hat. Auf jeden Fall ist sie offensichtlich höher als ein Erzengel, denn mit Erzengeln hatte Daniel schon zu tun, und die Begegnung mit den Erzengeln hat ihn nicht so aus den Latschen katapultiert wie diese Begegnung hier.
Gott erscheint also, und es ist ähnlich wie bei der Erscheinung von Jesus vor Damaskus, wo auch nur der Paulus die Erscheinung selbst wahrnahm, die anderen aber mitbekamen, dass etwas ganz außergewöhnliches geschah. Daniel fällt bei der Erscheinung Gottes ohnmächtig um.

Gott berührt Daniel, dass der zumindest wieder auf Knie und Handflächen kommt, und fordert ihn auf, sich hinzustellen. Darauf stellt sich Daniel hin, zittert aber weiter wie Espenlaub.

Gott erklärt Daniel nun, dass er schon vor drei Wochen kommen wollte, aber vom Fürsten des Königsreichs Persien aufgehalten worden war, und er wird auch nach dieser Unterredung mit Daniel wieder zum Kampfgeschehen gegen diesen Fürsten zurückkehren, aber im Moment wird er vom Erzengel Michael dort vertreten. Wenn man allerdings den Fürsten des Königsreiches Persien erledigt hat, ist man noch nicht fertig, denn danach kommt der Fürst des Königsreiches Griecheland, und alles geht wieder von vorne los.
Als Daniel diese Darlegung hört, verstummt er völlig. Ihm fehlen die Worte, wirklich. Da berührt ein himmlisches Wesen (es ist nicht klar, ob es der gleiche ist, der redet, oder ob der noch Hilfskräfte mitgebracht hatte) Daniels Mund, damit er wieder reden kann.

Daniel redet nun auch, kann aber nur erklären, dass er absolut keine Kraft hat, denn er steht Gott gegenüber, und da kann er als Mensch eigentlich überhaupt nicht existieren. Daraufhin wird er nochmal angerührt, und er wird nochmal ausdrücklich aufgefordert, stark zu sein, so dass Daniel schließlich in der Lage ist, sich die Botschaft anzuhören.

Um was es in diesem Kapitel eigentlich geht

In diesem Kapitel geht es um Liebe und um Macht.
Um Liebe geht es, weil in dieser Situation, in der Daniel um den Zustand seines Volkes trauert, es ja einiges über dieses Volk zu sagen gäbe. Die anderen Propheten haben uns lange Passagen darüber überliefert, was Gott diesem Volk alles ins Stammbuch zu schreiben hat, und dass das Volk letztlich nur die Konsequenzen seines eigenen Handelns und seiner eigenen Entscheidungen trägt.

Und jetzt erscheint Gott hier, und es fällt kein einziges negatives Wort, sondern Daniel erfährt, dass Gott sofort losgegangen ist, als Daniel zu beten und zu fasten anfing. Da hatte Gott nicht noch irgendwas Wichtiges zu tun, nein, umgehend kümmerte er sich um Daniels Angelegenheiten. Und dabei sagt er
  • Vers 11: "Du vielgeliebter Mann!"
  • Vers 12: "Fürchte Dich nicht!" und "Um Deiner Worte willen bin ich gekommen!"
  • Vers 19: "Fürchte Dich nicht, Du vielgeliebter Mann! Friede sei mit Dir!"
Und als Daniel umfällt, hebt man ihn wieder auf, und als er nicht sprechen kann, berührt man seine Lippen, und als er sich dann zu schwach fühlt, stärkt man ihn nochmal. Das ganze Kapitel strahlt ein unglaubliches Bemühen um Daniel aus - als wäre nichts wichtiger als er!

Und es gibt keine Ermahnung, keine Ungeduld - und sei es nur deswegen, dass er erst umfällt und dann nicht reden kann und dann zu schwach ist, um zuzuhören. Unendliche Geduld, unendliche Zuwendung!
Um Macht geht es hier, weil hier das mächtigste Wesen der Welt erscheint - so mächtig, dass Daniel es ohne göttliche Hilfe überhaupt nicht ertragen könnte. Und dieses mächtige Wesen hatte 3 Wochen Verspätung - weil es von jemandem aufgehalten wurde. Jemand, der so mächtig ist, dass er das mächtigste Wesen der Welt aufhalten kann!

Und damit kommen wir zu dem, der dafür gesorgt hat, dass das mächtigste Wesen der Welt sich in Bewegung setzt, und der Ursache dafür war, dass der Engelsfürst von Persien alles in seiner Macht stehende versucht, um das mächtigste Wesen der Welt daran zu hindern, dem Daniel die Antwort zu bringen.
Es ist Daniel selbst, der die Macht hat, den Machtkampf in der himmlischen Welt nicht nur zu entfachen, sondern auch zu entscheiden!
Weil Daniel betet, geht das göttliche Wesen los!
Weil Daniel betet, kommt der Erzengel Michael zur Verstärkung!
Weil Daniel betet, erscheint der Engelsfürst von Persien - wenn Daniel nicht gebetet hätte, hätte der Engelsfürst nichts verhindern müssen, dann hätte er zu Hause bleiben können.
Und vor diesem Hintergrund sind alle die Aussagen des Neuen Testamentes über die "Herrschaft der Heiligen" zu verstehen. Daniel 10 erklärt den Hintergrund, warum man "Berge versetzen" kann oder "was Ihr bitten werdet in meinem Namen, wird geschehen" oder warum den Gläubigen angeblich nichts unmöglich sein wird.

Und vor diesem Hintergrund wird auch die komische Frage von Vers 20 verständlich. Denn Gott fragt den Daniel in Vers 20 "Hast Du erkannt, worum ich zu Dir gekommen bin?", obwohl er es doch in Vers 14 gerade erst ausdrücklich gesagt hat: "Ich bin gekommen, um Dich verstehen zu lassen, was Deinem Volk am Ende der Tage widerfahren wird".

Die Auskunft von Vers 14 ist eher eine Vertuschungsantwort in dem Zusammenhang, dass Gott kein Interesse hat, dass Hinz und Kunz sein Wort verstehen. Vers 14 bedient die Fraktion der Leute, die die Propheten und Seher wie ein Horoskop lesen. Diese freuen sich über Vers 14 und nehmen Vers 20 nicht mehr zu Kenntnis oder erklären ihn für einen Fehler im Text, weil im Vers 14 ja schon alles gesagt ist.
Aber in Wahrheit ist Gott hier gekommen, um Daniel hier über die Machtverhältnisse aufzuklären. Eine Information, die für die letzten beiden Kapitel dieses Buches ziemlich wichtig ist.