Nehemia 1,3 – Jammern wegen Offenheit

Damit hatte Nehemia nicht gerechnet.

Die Rückkehr der Israeliten aus dem persischen Exil lief seit 90 Jahren.

Seit 70 Jahren wurde der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut.

Und jetzt kommt der Bruder von Nehemia aus Jerusalem – wir wissen nicht, ob er eigentlich in Babylon lebte und eine Besuchsreise nach Jerusalem gemacht hatte, oder ob er vor einigen Jahren nach Jerusalem gezogen war und nun mal wieder die holde Familie im heimatlichen Persien besuchte – und der erzählt, dass die Zustände in Jerusalem undenkbar schlimm sind.

Nach all den Jahren, all den Mühen, all den Hoffnungen und Visionen.

Offenbar war alles umsonst gewesen.

Und man muss beachten, was genau beschrieben wird. Denn die Bewohner in und um Jerusalem sind nicht einfach nur arm.

Sondern sie leben „in Unglück und Schmach“.

Das ist viel schlimmer als gewöhnliche wirtschaftliche Not, die schon schlimm genug ist.

Ein Bibeltext, nicht wahr?

Nun steht dieser Text in der Bibel.

Nicht in der Zeitung.

Sowohl deshalb als auch wegen der Vernunft des Nehemia kann man davon ausgehen, dass Nehemia nicht wegen der Armut der Leute so bestürzt ist.

Die Bibel ist kein Organ der Menschenrechtsorganisationen oder des Kinderhilfswerks UNICEF, und auch zu Nehemias Zeiten gab es soviel Armut und Not, dass man irre im Kopf geworden wäre, wenn man jedesmal darüber bestürzt sein wollte.

Es dürfte beim Jammern des Nehemia also um Gott und dessen Sache gehen.

Die Rolle der Stadt

Jerusalem war die Stadt, in der Gott beschlossen hatte zu wohnen. Der Tempel, in dem Gott eigentlich wohnen sollte, stand auch schon wieder, wenn auch in eher dürftiger Form.

Damit das mit Gottes Wohnen aber funktionierte, musste auch das Gesetz eingehalten werden.

Man sieht in Nehemia 13,19, wie es selbst nach dem Bau der Stadtmauer schwierig war, allein die Einhaltung des Sabbats durchzusetzen.

Ohne Mauern hatte man aber überhaupt keine Kontrolle, wer in die Stadt hineinkam und was der dort machte. Nicht nur Heiden oder Sünder, auch Kriminelle hatten ungehinderten Zugang.

Hinzu kommt, dass es ein schlechtes Zeichen war, wenn die Stadt Gottes ohne jede Stärke dastand. Es war in den Augen der Gläubigen (aber auch in den Augen der Spötter) eine Schande, dass dieser Gott so schwach war, dass er offen angreifbar residieren musste. Angeblich hatte dieser Gott den Juden das gelobte Land gegeben, aber sie konnten noch nicht einmal die zentrale Stadt dieses Landes verteidigen. Und auch Gottes Regeln konnten sie in Gottes eigener Stadt nicht durchsetzen.

Nun war Jerusalem aber nicht nur der Ort, wo Gott sich offenbarte.

Jerusalem war auch die Stadt der Zukunft.

Der neue König, der sollte vom Zion aus herrschen. Alle zukünftige Geschichte war abhängig von diesem Berg.

Aber der neue König und das vorausgesagte Heil konnte nicht kommen, wenn in der Stadt das Gesetz des Mose nicht eingehalten wurde.

Jede Perspektive für den Glauben der Juden hing an dieser Stadt.

Und zuletzt: Man ehrte Gott dadurch, dass man seinen Ort in einen präsidiablen Zustand versetzte.

Die Rolle der Stadt in der Bibel

Um Nehemias Gefühle verstehen zu können, müssen Sie sich vor Augen halten, dass das Buch Hesekiel in seinem letzten Teil eine gewaltige Vision des Tempels einschließlich der Stadt und des Umlandes aufgeschrieben hat. Das Buch Hesekiel wurde lange vor Nehemia geschrieben und dürfte ihm bekannt gewesen sein. Man konnte also davon ausgehen, dass Gott etwas Großes mit Jerusalem vorhatte.

In der Offenbarung kommt im Kapitel 21 das Neue Jerusalem vom Himmel von Gott herab und wird ausführlich beschrieben, besonders auch seine Mauern und seine Stadttore. Nehemia hatte in seiner Einschätzung der Bedeutung der Stadt also recht, denn die Krönung der Weltgeschichte wird eine geistliche und verbesserte Version der Stadt sein.

Die Sklaven bleiben Sklaven

Vielleicht ist Ihnen ja die komische Formulierung aufgefallen, mit der die Bewohner von Jerusalem in den Versen 2 und 3 benannt werden: „Und ich fragte sie nach den Juden, den Entkommenen, die von den Gefangenen übrig geblieben waren“ und „Die Übriggebliebenen, die von den Gefangenen dort in der Provinz übrig geblieben sind“.

Die Gläubigen waren also aus der Gefangenschaft nach Jerusalem zurückgekehrt, aber sie lebten immer noch als Gefangene. Als mühsam Entkommene. Sie lebten wie Sklaven: arm und elendig, von der Hand in den Mund. Ihre Befreiung war überhaupt keine. Sie waren nur räumlich verschoben worden, aber dass sie stolze Kinder eines großen und wunderbaren Gottes waren, davon konnte keine Rede sein.

Gott war überhaupt nicht König in Jerusalem.

Und all die Verheißungen, die es für das gelobte Land gab, die traten nicht in Kraft. Kein Segen, keine Fülle, kein Überfluss von Most und Getreide.

Im Grunde war die ganze Rückkehr nach Jerusalem umsonst gewesen.

Ja, der etwas klägliche Tempel stand, und die Wohnhäuser waren soweit instand gesetzt.

Aber das Herrliche, das man sich erhofft hatte und was nach den biblischen Verheißungen zu erwarten gewesen wäre, das gab es nicht.

Bedeutung heute

Sollten Sie sich unerwarteter Weise fragen, warum Sie diesen Text von Nehemia heute noch lesen sollten:

Das Jerusalem des Alten Testaments hat sein Gegenüber in der Gemeinde des Neuen Testaments.

Und wenn Sie um die Gemeinde keine Mauer drumrum machen – schauen Sie sich die evangelische Kirche in Deutschland an, dann sehen Sie, was dabei herauskommt.

Das Problem dabei ist weniger eine Form von Moral oder Verhaltenskodex. Das Problem ist ein geistliches.

In meiner Gemeinde hat man z.B. entschieden, dass Yoga in der Gemeinde nichts zu suchen hat.

Auch „christliches Yoga“ nicht.

Wir lassen den Buddhismus einfach nicht in die Gemeinde rein. Und das ist klug. Wenn der nämlich erstmal drin ist, kriegen Sie den schlecht wieder raus.

Und der Buddhismus ist nun mal eine Religion, die auf Selbsterlösung aus ist.

Und das ist das Gegenteil von der Erlösung durch Jesus.

Wen man wie aussperrt

Ganz einfach ausgedrückt, kann man natürlich sagen: Lassen Sie den Teufel nicht rein.

Aber das ist oft eine recht platte und wenig anschauliche Wahrheit.

In den Briefen des Neuen Testaments können Sie vielfach lesen, dass Sie Streit und Neid nicht in die Gemeinde hinein lassen sollen.

Das wäre tatsächlich mal was.

Sie können natürlich schon in Ihrem eigenen Leben anfangen, dass Sie gewisse Gedanken nicht reinlassen.

Nehemia wusste, dass Gott und das Böse nicht nebeneinander gedeihen können.

Wenn Gott tatsächlich König ist – in Ihrem Leben, in Ihrer Gemeinde – dann muss das auch sichtbar sein. Unter anderem dadurch, dass gewisse Dinge in Ihrem Leben nicht zu finden sind.

Wenn Sie es nicht schaffen, Ihr Leben oder Ihre Gemeinde gegen den Teufel zu verteidigen, dann ist das eine Schande für Gott. Denn dann zeigt es genau das: Gott ist gar nicht König.

Noch nicht einmal da, wo er wohnt.

Darüber hat Nehemia sich so aufgeregt: Dass Gott da, wo er Präsens zeigen will, nicht König ist.

Ich hoffe, Nehemia muss nicht auch über Sie weinen, fasten und beten.